Rentenprobleme und Altersarmut – Ernst Niemeier

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Markt­ver­sa­gen als deren Ursa­che stei­gert die Dring­lich­keit grund­le­gen­der Reformen
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Die Reform der gesetz­li­chen Renten­ver­si­che­rung ist zwar drin­gend, aber aus ande­ren Grün­den als denen, die in der poli­ti­schen Diskus­si­on behan­delt werden.
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Sie ist erstens drin­gend, weil die Ries­ter-Refor­men 200102 auf der inter­es­sen­ge­lei­te­ten Diagno­se eines vermeint­lich demo­gra­fi­schen Problems beruh­te, die von zahl­rei­chen Ökono­men vertre­ten wird. Sie behaup­te­te, dass die demo­gra­fisch beding­ten „Erhö­hun­gen des Beitrags­sat­zes nicht zu bewäl­ti­gen“ seien. Dabei wird die gleich­zei­tig statt­fin­den­de Produk­ti­vi­täts­stei­ge­rung mit der folgen­den Stei­ge­rung des Real­ein­kom­mens aller­dings ausge­blen­det. Es wird vernach­läs­sigt, dass die Real­ein­kom­mens­stei­ge­rung die Wirkung der demo­gra­fisch beding­ten Beitrags­satz­stei­ge­rung über­kom­pen­siert. Bei Annah­me eines jähr­lich nur um 1,4 Prozent stei­gen­den Real­ein­kom­mens, das aus den Simu­la­tio­nen des Bochu­mer Ökono­men Martin Werding abge­lei­tet wurde, steigt das Netto­re­al­ein­kom­men – ohne Berück­sich­ti­gung von Steu­ern und ande­rer Sozi­al­ab­ga­ben – trotz stei­gen­der Beitrags­sät­ze um mehr als 111 Prozent. Höhere Beiträ­ge, die zudem auch einen eigen­tums­ähn­li­chen Anspruch auf die eigene Rente bewir­ken, sind trag­bar. Die sog. Ries­ter-Refor­men wurden falsch begrün­det und müssen zurück­ge­nom­men werden.
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Zwei­tens verstößt der sach­wid­ri­ge Ziel­aus­tausch, durch den die Funk­tio­nen des Lohn­er­sat­zes und der Lebens­stan­dard­si­che­rung durch die Siche­rung des Beitrags­sat­zes ersetzt werden, gegen Grund­rech­te und sozi­al­staat­li­che Verpflich­tun­gen. Der Verzicht auf das grund­recht­lich und sozi­al­staat­lich notwen­di­ge Renten­ziel bedeu­tet den Verlust sozi­al­staat­li­cher Orien­tie­rung und Verpflich­tung. Im Ergeb­nis wird das Exis­tenz­mi­ni­mum viel­fach unter­schrit­ten und Alters­ar­mut verur­sacht. In grund­recht­li­cher Termi­no­lo­gie wird die Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG), das Recht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 GG) und die sozi­al­staat­li­che Verpflich­tung (Art. 20 Abs. 1 GG) verletzt.
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Drit­tens ist nicht die Reform ziel­füh­rend und notwen­dig, die von der Regie­rung nach jahre­lan­ger Kampa­gne gegen das Umla­ge­ver­fah­ren inter­es­sen­ge­lei­tet als Akti­en­ren­te geplant wird. Sie wird mit der glei­chen falschen Proble­m­ur­sa­che der demo­gra­fie­be­ding­ten Beitrags­über­las­tung begrün­det. Die geplan­te kurz- und mittel­fris­tig anzu­sam­meln­de Akti­en­ka­pi­tal­ba­sis reicht im Übri­gen nicht aus, die Rente kurz- und mittel­fris­tig auf ein auskömm­li­ches Niveau anzu­he­ben. Und es wird auch das Finanz­markt­ri­si­ko vernach­läs­sigt, das mit stei­gen­der Rendi­te steigt.
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Eine grund­le­gen­de Reform der gesetz­li­chen Rente ist vier­tens deshalb drin­gend notwen­dig, weil gravie­ren­de system­be­ding­te Ursa­chen für unzu­rei­chen­de Renten sowohl in der wissen­schaft­li­chen Diskus­si­on als auch in der poli­ti­schen Praxis völlig vernach­läs­sigt oder über­se­hen wurden. Denn verant­wort­lich für die bestehen­den und sich noch verschär­fen­den Renten­pro­ble­me sind zum einen poli­ti­sche Ursa­chen. So wurde mit der Agenda-Poli­tik Anfang der 2000er Jahre auf der Grund­la­ge einer falschen Ursa­chen­dia­gno­se der bestehen­den Arbeits­lo­sig­keit ein großer Nied­rig­lohn­sek­tor geschaf­fen, dessen sich der Kanz­ler Schrö­der sogar rühmte. Der ameri­ka­ni­sche Wirt­schafts­no­bel­preis­trä­ger Robert Solow und weite­re namhaf­te Ökono­men wider­spra­chen der Ursa­chen­dia­gno­se zu Recht. Mit den Nied­rig­löh­nen wurde aber nicht nur die erwerbs­be­ding­te Exis­tenz­si­che­rung bedroht, sondern zwangs­läu­fig ein unzu­rei­chen­des Renten­ni­veau verursacht.
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Während auf die poli­ti­schen Ursa­chen der Renten­pro­ble­me schon hinge­wie­sen wurde, ohne dass aller­dings poli­ti­sche Konse­quen­zen daraus gezo­gen wurden, ist ein weite­res wich­ti­ges Ursa­chen­feld für unzu­rei­chen­de Renten, das drin­gend der Korrek­tur bedarf, bislang völlig über­se­hen worden. Es geht um die Auswir­kun­gen von Mängeln des Wirt­schafts­sys­tems, d. h. um die Fälle des Markt­ver­sa­gens, die zu Renten­ein­bu­ßen führen, die grund­rechts­wid­rig der gesell­schaft­li­chen Teil­grup­pe der Arbeit­neh­mer und Rent­ner ange­las­tet werden. Das Markt­ver­sa­gen und seine will­kür­li­chen Belas­tun­gen müssen deshalb ausführ­li­cher behan­delt werden.
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Markt­ver­sa­gen verur­sacht diskri­mi­nie­ren­de Rentenprobleme
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Wenn das Markt­sys­tem fehler­haft arbei­tet und die nega­ti­ven Folgen davon ungleich­mä­ßig auf die Bürger wirken oder sich gar nur auf Teile der Gesell­schaft auswir­ken, muss der für das Markt­sys­tem verant­wort­li­che Staat eingrei­fen. Die unge­recht­fer­tig­te Zurech­nung dieser nega­ti­ven Einkom­mens- und Renten­wir­kun­gen an die dafür nicht verant­wort­li­chen Bürger ist nicht nur – wie auch im Fall poli­ti­scher Fehler – ille­gi­tim, sie verstößt zusätz­lich gegen die grund­recht­lich gefor­der­te Gleich­be­hand­lung gemäß Art. 3 Absatz 1 GG. Denn unver­meid­ba­re oder nicht vermie­de­ne nega­ti­ve Neben­wir­kun­gen des Markt­sys­tems müssen allen Bürgern zuge­rech­net werden. Zwar ist es rich­tig, dass dieses Wirt­schafts­sys­tem, für das sich Deutsch­land entschie­den hat, im Trend sehr erfolg­reich ist. Der ameri­ka­ni­sche Wirt­schafts­no­bel­preis­trä­ger Joseph Stig­litz beschreibt es mit den Worten: „Die Markt­wirt­schaft ist eine unglaub­li­che Erfolgs­ge­schich­te. Der Wohl­stand, den sie hervor­brach­te, über­traf die kühns­ten Erwar­tun­gen. Markt­wirt­schaft­li­che Syste­me sind außer­or­dent­lich leis­tungs­fä­hig, aber sie haben Schwä­chen“. An ande­rer Stelle fährt er fort: „Die regel­mä­ßig wieder­keh­ren­de Massen­ar­beits­lo­sig­keit, die beweist, dass Märkte Ressour­cen eben nicht opti­mal nutzen, markiert ledig­lich die Spitze des Eisbergs, wenn es um Markt­ver­sa­gen geht“. Zwei andere namhaf­te ameri­ka­ni­sche Ökono­men beschrei­ben das Problem ähnlich: „Ein markt­wirt­schaft­li­ches System (ist) ein hoch­wirk­sa­mer Mecha­nis­mus zur geord­ne­ten Bereit­stel­lung und Vertei­lung von Gütern inner­halb einer Gesell­schaft“. Dann fügen sie aber hinzu: „, dass der Markt­me­cha­nis­mus nicht immer zufrie­den­stel­lend funk­tio­niert […], dass der Wachs­tums­pro­zess einige schwer­wie­gen­de Defek­te aufweist“. Diese Defek­te müssen, wie schon gesagt, allen Bürgern ange­las­tet werden, die von diesem Markt­sys­tem profi­tie­ren. Sie dürfen nicht will­kür­lich den Bürgern aufge­bür­det werden, die zufäl­lig und schuld­los von den Auswir­kun­gen des Markt­ver­sa­gens betrof­fen sind. Beson­ders schwer­wie­gend sind Defek­te, die dazu führen, dass die der Exis­tenz dienen­den Einkom­men betrof­fe­ner Mitglie­der der Gesell­schaft unzu­rei­chend werden oder gar entfallen.
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