Lehre und Lehrer – Karl-Heinz Brodbeck
In Gesprächen zu spirituellen Fragen sieht man sich häufig mit einer Haltung konfrontiert, die sich scheinbar nur um eine praktische Frage dreht: das Verhältnis zur kirchlichen Organisation und ihren Autoritäten bzw. zum Lehrer (Guru, Lama, Rabbi) in anderen spirituellen Traditionen. Die Tugend der Philosophie, das eigene Denken, erscheint in der Religion geradezu als Hindernis. Denn das Ich-zentrierte Denken ist das Hemmnis. Doch ohne Selbstdenken, so wenden Philosophen ein, wird nur eine andere Gewohnheit, wenn nicht eine bloße Abhängigkeit erzeugt. Diese Frage ist deshalb nicht einfach zu beantworten, und auch die hier formulierten Bemerkungen können hier nur einige Hinweise geben. Bereits die Gnostiker haben umgekehrt den Philosophen vorgeworfen: »Der Philosoph, er ist ein Mensch, der sich um sich selbst dreht.«
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Die Vergöttlichung von Jesus und Buddha (in Tibet und Nepal auch von Padma-sambhava) verbirgt eine einfache Tatsache: sie waren zunächst nur Menschen; Menschen, die offenbar suchten und schließlich etwas fanden. Soweit sich die frühe Überlieferung beurteilen lässt, hatten sie keine Lehrer. Von Jesus wird berichtet, dass seine Zeitgenossen den Lehrer vermissten: »Woher hat er denn dies? Was ist das für eine Weisheit, die ihm zu eigen ist? Und was sind das für Wunder, die durch seine Hände geschehen? Ist er nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria und der Bruder des Jakobus und des Joses und des Judas und des Simon? Und sind nicht auch seine Schwestern hier bei uns?« Der Buddha sagte: »Selbst ward ich wissend. Wen sollte ich nennen? Niemand ist mein Lehrer«, und von Padmasambhava heißt es: »Fragten ihn die Menschen, wer er sei, und welchen Guru er habe, antwortete er: ›Ich habe weder Vater noch Mutter, weder Abt noch Guru, weder Kaste noch Namen. Ich bin der Selbst-Geborene Buddha.‹« Der Satz »Folget mir nach!« hat aus diesem Horizont gedeutet einen ganz anderen, eigenen Sinn: Dieser Satz fordert zunächst und zuerst – unabhängig von der spirituellen Farbe und Tradition – dazu auf, selbst zu erkennen. Jesus beschrieb sich selbst als die Wahrheit, der Buddha bezeichnete seinen Körper als »Dharmakaya«, als Wahrheitskörper – für die Wahrheit aber gibt es keinen Stellvertreter, man kann sie nur verwirklichen. Jede Stellvertretung der Wahrheit ist Täuschung, ja mehr noch, ein Hemmnis. Jesus sagt im wiederentdeckten Thomas-Evangelium über die Lehrer der jüdischen Tradition: »Wehe ihnen, den Pharisäern, denn sie gleichen einem Hunde, der auf der Futterkrippe von Rindern liegt; denn weder frisst er noch lässt er die Rinder fressen.«
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Die Lehrer oder die »Organisatoren« des Glaubens sind auch ein Hindernis, nicht nur eine Hilfe. Sicherlich wird man das nicht so verstehen dürfen, dass Hilfe unzulässig sei. Es gibt Meister in allen Traditionen. Deren Meisterschaft besteht aber vor allem darin, das Selbst-Denken, die Macht über das eigene Denken zu lehren, nicht vorzudenken. »Euch fehlt das Selbstvertrauen, darum ist euer Geist immerzu auf der Suche. Ihr sucht kopflos euren eigenen Kopf, könnt euch keine Ruhe gönnen«, sagt Linji. Hierarchische Abhängigkeit und Gehorsam als zentrale Tugend widersprechen dem ebenso wie die bloße Hingabe an den Guru. »Wer das All erkennt, wobei er sich selbst verfehlt, verfehlt das Ganze.« – dieser Satz aus dem bereits zitierten Thomas-Evangelium drückt zugleich die innere Berührung zwischen Philosophie und spiritueller Tradition aus. Wenn das Reich nicht von dieser Welt ist, wenn sogar der Herr dieser Welt im christlichen und frühen buddhistischen Verständnis der Widersacher ist, dann kann es in und mit dieser Welt kein endgültiges Heil geben. Im tibetischen Buddhismus drückt man dies so aus, dass wir heute im finsteren Zeitalter (Kali Yuga) leben, in jenem »verwüsteten Land«, von dem auch in der Grals-Legende die Rede ist. »Heil« bedeutet deshalb, das Welthafte dieser Welt zu erkennen und sich von ihrer Macht über das Denken und Fühlen zu befreien. Es ist jeglicher Form der Macht, auch spiritueller, zu misstrauen, weil Macht die Form jener Täuschung ist, die Spiritualität gerade überwinden möchte. Der achselzuckende Satz: »Es muss eine Organisation geben!«, ver-kennt diese Gefahr. Die hübsche Geschichte, wonach Gott seinen Sohn zur Rettung der Welt sandte, der Teufel diese Rettung aber organisierte und die Kirche schuf, drückt dies sehr klar aus.
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Das Einfügen in eine und die Achtung vor einer Tradition braucht dem nicht zu widersprechen; es kommt darauf an, was diese Tradition vermittelt. Es geht hier nicht um die bloß formale äußere Freiheit der Aufklärung. Wenn das Wesen des Menschen die »Wüste der Gottheit«, die »Leerheit« oder die »Freiheit« ist, dann kann dieses Wesen nicht als eine äußere Form offenbar werden. Eine äußere Bindung mag sich zwar in voller Freiheit vollziehen und dann dieses Wesen offenbaren; das setzt jedoch voraus, dass sich dieses Wesen gezeigt hat. Die katholische oder tantrische Dialektik, wonach in Gehorsam und Hingabe Befreiung offenbar werde, ist zwar jeweils auch ein Ausdruck menschlicher Freiheit, oft aber auch ein Weg in neue Abhängigkeit. Man befreit sich vom alten Ego, um es vielleicht gegen ein neues, geliehenes Ego einzutauschen.
Der Buddha drückte dies so aus, dass ein Boot nützlich ist, um ans andere Ufer zu gelangen; es ist jedoch ein Hindernis, wollte man es auf dem weiteren Weg mitschleppen. Die Jetzt-Zeit hat sich im Westen eher darauf spezialisiert, einen riesigen Supermarkt mit Booten zu eröffnen und die Bootsfahrt als Vergnügungsreise zu vermarkten. Jede spirituelle Organisation, die jemand ernährt, der von der Religion lebt, verdient deshalb exakt die Skepsis, die durch die Aufklärung formuliert wurde…
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