Kapitalismus, Reichtum und Macht – Gero Jenner
Bei allem Gejammer über den Neoliberalismus geht manchmal die Einsicht verloren, dass die vergangenen zweihundert Jahre den größten Fortschritt in der Geschichte des Menschen bewirkten – vorausgesetzt natürlich, man beschränkt sich ganz und gar auf dessen materiellen Aspekt. Nie ist es einer so großen Zahl so gut gegangen, selbst die von Jean Ziegler so dramatisch beschworenen Hungertoten, die es nach wie vor gibt, fallen prozentual kaum ins Gewicht, vergleicht man sie nämlich mit den Verwüstungen, welche die Hungersnöte früherer Zeiten regelmäßig verursacht haben. Der Kapitalismus hat – so viel ist zweifellos richtig – die Kapitalisten ungeheuer reich gemacht, reicher als die Fürsten und Könige vergangener Epochen, aber sie sind nur deswegen so reich geworden, weil sie den Reichtum mit der arbeitenden Bevölkerung teilen – ihn sogar teilen müssen.
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Die zwei widerstreitenden Prinzipien der Industriellen Revolution
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Diese Behauptung mag auf den ersten Blick paradox erscheinen. Gehört es nicht zum Prinzip des Wettbewerbs zwischen den Unternehmen, dass jeder die Kosten senkt, um seinen eigenen Anteil am Verkauf und damit den eigenen Gewinn zu erhöhen? Und muss der dadurch in Bewegung gesetzte Wettbewerb nicht zwangsläufig dazu führen, dass jedes einzelne Unternehmen, wenn es nur kann, die Löhne bis auf das Überlebensminimum drückt?
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Vom Standpunkt des einzelnen Unternehmens, das sich bei geringeren Produktionskosten einen Vorteil verschafft, scheint dies in der Tat eine sinnvolle Strategie zu sein. Vom Standpunkt aller Unternehmen zusammen aber würde ein solches Verhalten nichts anderes als kollektiven Selbstmord bewirken, denn Massenproduktion setzt Massenkonsum voraus; Letzterer aber ist nur zu verwirklichen, wenn die Unternehmen den Beschäftigen Löhne in einer Höhe zahlen, die diesen den Erwerb der angebotenen Güter erlaubt.
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Der Gegensatz zwischen einem kollektiv vernünftigen Verhalten, das zwangsläufig auf ein ausreichend hohes Lohnniveau zielt, und einem individuell vorteilhaften Egoismus, der den einzelnen Betrieb zu niedrigen Lohnzahlungen drängt, begleitet das kapitalistische Wirtschaftssystem seit seinem Beginn.
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Es führt auch zu einem schroffen Widerspruch in der Deutung des Kapitalismus
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Karl Marx hat sein Augenmerk ausschließlich auf den Egoismus des einzelnen Kapitalisten gerichtet, daraus hat er dann seine Verelendungstheorie abgeleitet. Andere wie Adam Smith oder der tragische Enthusiast der französischen Revolution, der Marquis de Condorcet, haben eine viel richtigere Prophezeiung abgegeben, als sie die Industrielle Revolution zum Beginn eines epochalen materiellen Aufschwungs erklärten. In der langfristigen historischen Perspektive haben die Optimisten eindeutig recht behalten; statt weltweiter Verelendung ist die Menschheit seit zweihundert Jahren materiell reicher und reicher geworden. Sie würde heute einen nie zuvor erahnten Wohlstand genießen, hätte sich die Bevölkerung des Globus nicht mittlerweile um das Siebenfache vermehrt. So gesehen, darf man durchaus behaupten, dass die Kapitalisten als Kollektiv – allerdings unter tätiger Mithilfe einer organisierten Arbeiterschaft – sehr wohl begriffen haben, dass ihr eigenes Wohlergehen unmittelbar vom Wohlstand der Beschäftigten abhängig ist. Der einzelne Unternehmer kann ein Ausbeuter sein, alle Unternehmen zusammen können es nicht. In dem Augenblick, wo sie vergessen, dass es keine Massenproduktion geben kann ohne entsprechenden Massenkonsum, würden sie das eigen- – -
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