Ein Manifest der Achtzigjährigen – Marianne Gronemeyer

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Unsere Stimme wird in dieser Abend­däm­me­rung unse­res Lebens leiser. Das Leise-Werden gebührt uns, es gehört zu den Tugen­den des Alters. Was uns nicht gebührt, ist, dass wir resi­gniert verstum­men. Denn wir sind Euch Jünge­ren schul­dig, dass wir den Mund aufma­chen, nicht um Euch zu beru­hi­gen, sondern um Euch zu beun­ru­hi­gen; und wir spre­chen zu Euch, nicht weil wir vor Alters­weis­heit strot­zen, sondern weil wir die Erfah­rung des Krie­ges, die sich uns in den Bomben­näch­ten einpräg­te, ein Leben lang mit uns herum­ge­tra­gen haben. Das Wort ‚Krieg‘ ist in aller Munde, und es ist beängs­ti­gend, wie geschmei­dig es sich in das tägli­che Sammel­su­ri­um der Nach­rich­ten einfügt, als sei ‚Krieg‘ ein Gegen­stand wie jeder andere.

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Unsere Vorstel­lun­gen vom Krieg entste­hen nicht aus den wirk­mäch­ti­gen Bildern, die uns auf unse­ren klei­nen und großen Bild­schir­men aufge­tischt werden. Sie tauchen, ob wir wollen oder nicht, auf aus unse­ren leib­haf­ti­gen Erin­ne­run­gen und können nicht Ruhe geben: Das Heulen der Sire­nen, das die Bomben ankün­dig­te, die Trüm­mer ein paar Häuser weiter, in denen wir bei Strafe nicht spie­len durf­ten wegen der Blind­gän­ger und der Einsturz­ge­fahr; die Bunker, in die wir beinah jede Nacht gebracht wurden und in denen wir dicht­ge­drängt beiein­an­der saßen; das Entset­zen, wenn nahe­bei eine Bombe nieder­ging und der ganze Bunker wackel­te; und die Fins­ter­nis, wenn das Licht erlosch und nur noch ein auf die Wand aufge­tra­ge­nes Phos­phor­qua­drat eine Illu­si­on von Licht aufrecht­erhielt; die Sorge, ob das Haus, in dem wir wohn­ten, noch stand, wenn wir nach dem Bomben­an­griff aus dem Bunker ‚nach­hau­se‘ gingen; das Kind, das sich in pani­scher Angst mit Händen und Füßen dage­gen wehrte, die Gasmas­ke aufzu­pro­bie­ren und die Mutter, die nicht vermoch­te, ihrem Kind um seiner Sicher­heit willen diese Gewalt anzu­tun; der Hunger, der wehtat; und die Riva­li­tät der Geschwis­ter um das karge Brot; die Frost­beu­len, die juck­ten, aber nicht gekratzt werden durf­ten, weil sie nicht heilten.

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Unsere Erfah­rung vom Kriegs­ge­sche­hen reicht über die Kind­heits­er­leb­nis­se nicht hinaus, aber das genügt, um uns mit den getö­te­ten, verwun­de­ten und verängs­tig­ten Kindern in der Ukrai­ne verbun­den zu fühlen und es macht es uns unmög­lich, über ihre Leiden hinweg­zu­se­hen. Je länger dieser Krieg dauert, desto mehr wird ihr Leben von ihren Kriegs­er­fah­run­gen beherrscht sein, sie werden, wie wir, Kriegs­kin­der sein. Sie haben keine Stimme, um das Schwei­gen der Waffen und den Weg der Verhand­lun­gen einzu­for­dern. Wir tun das an ihrer statt, und wir tun es auch um unse­rer eige­nen Angst vor einer nuklea­ren Eska­la­ti­on willen, für die nieman­des – wirk­lich nieman­des – Vorstel­lungs­ver­mö­gen reicht.

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Wie wir später erfuh­ren, gehör­ten wir auf die Seite der Angrei­fer in diesem verbre­che­ri­schen Krieg – und waren doch seine Opfer. Und wir muss­ten lernen, dass die Bomben­ein­schlä­ge, vor denen wir uns so gefürch­tet haben, dem Terror­re­gime des Hitler­fa­schis­mus ein Ende setz­ten. Millio­nen Solda­ten, US-ameri­ka­ni­sche, sowje­ti­sche, briti­sche, fran­zö­si­sche haben dabei ihr Leben gelas­sen. Mit dem Wider­spruch, dass die, die uns bombar­dier­ten, zugleich unsere Befrei­er waren, muss­ten dieje­ni­gen unter uns, die sich zum Pazi­fis­mus bekann­ten, leben. Zwei berühm­te Pazi­fis­ten des Ersten Welt­kriegs, Albert Einstein und Bert­rand Russel „haben sich mit guten Grün­den für den alli­ier­ten Krieg gegen Hitler-Deutsch­land ausge­spro­chen. In dieser drama­ti­schen histo­ri­schen Situa­ti­on, in der das Über­le­ben der Mensch­lich­keit auf der Kippe stand, […] mach­ten beide schwe­ren Herzens und voller Über­zeu­gung“ die eine, einzi­ge Ausnah­me von ihrem Pazi­fis­mus. Nach Kriegs­en­de verstan­den sie sich weiter als Pazi­fis­ten und „ergrif­fen wieder und wieder das Wort gegen Korea­krieg, Hoch­rüs­tung un
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