Die neun Lügen des grünen Märchens – Jem Bendell
Der Essay wurde anlässlich von Jem Bendells Rede beim Festival of Dangerous Ideas 2024 veröffentlicht. Ins Deutsche übertragen von Andreas Bangemann.
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Selbsttäuschung ist in der Umweltbranche und ‑bewegung weit verbreitet. Ein gewisses Maß an Verleugnung oder Verdrängung ist nicht überraschend, da es sehr belastend ist, sich auf eine sich abzeichnende Tragödie zu konzentrieren. Aber unsere Anfälligkeit für Selbsttäuschung wurde von den Eigeninteressen der Reichen und Mächtigen missbraucht, um ein „falsches grünes Märchen“ zu spinnen. Ihre Erzählung lenkt uns ab von der Wahrheit über bereits entstandene und drohende Schäden und über unsere möglichen alternativen Optionen. Tatsächlich hindert uns ihr Märchen daran, uns zu wehren und zu versuchen, diese Katastrophe gerechter zu gestalten oder einen sanfteren und gerechteren Zusammenbruch der Gesellschaften, in denen wir leben, zu erreichen. Um eine größere Rebellion zu verhindern, wird das Märchen vermutlich mit viel Geld für Bücher, Preise, Artikel, Dokumentarfilme und Videos für populäre YouTube-Kanäle unterstützt. Deshalb haben Sie, wie ich, vielleicht jahrelang nicht bemerkt, dass es sich um ein Märchen handelt. In diesem Essay werde ich die neun Lügen aufzählen, die dieses „falsche grüne Märchen“ ausmachen, bevor ich darlege, welchen Schaden die Dominanz dieses Märchens im heutigen Umweltschutz sowohl den Menschen als auch dem Planeten zugefügt hat.
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Das „falsche grüne Märchen“ besagt, dass die Menschheit ihr gegenwärtiges Konsumniveau beibehalten kann (Lüge), indem sie sich auf erneuerbare Energien stützt (Lüge), die bereits fossile Brennstoffe verdrängen (Lüge) und so Netto-Null erreichen (Lüge), um die Temperaturen innerhalb weniger Jahre auf ein sicheres Niveau zu senken (Lüge), um eine nachhaltige Zukunft für alle zu sichern (Lüge), und dass die Feinde dieses Ergebnisses die Kritiker der Energiewende sind (Lüge), die alle von der fossilen Brennstoffindustrie finanziert oder beeinflusst werden (Lüge), so dass die Verfechter grüner globalistischer Ziele ethisch korrekt handeln, indem sie alles tun, um ihre Ziele zu erreichen (Lüge).
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Aufgrund der weithin verfügbaren Beweise für das Gegenteil handelt es sich dabei nicht nur um Missverständnisse. Um dies zu verdeutlichen, werde ich sie kurz näher erläutern.
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Erstens
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ist die Behauptung falsch, die Menschheit könne ihr Konsumniveau aufrechterhalten. Die Menschheit überschreitet bereits die Belastungsgrenze des Planeten Erde. In diesem Jahr war der 1. August der Tag, an dem die Überschreitung begann. Wir beeinträchtigen die Fähigkeit der Meere, Wälder und Böden, das zu produzieren, was wir brauchen, und wir verbrauchen wichtige Mineralien. Und das, obwohl im vergangenen Jahr rund 800 Millionen Menschen (etwa jeder zehnte Mensch auf der Welt) unterernährt waren. Unser Geldsystem zwingt unsere Wirtschaft, den Ressourcenverbrauch zu erhöhen, und die Theorie, dass dieser Verbrauch von der Ressourcennutzung entkoppelt werden kann, wurde durch Hunderte von Peer-Review-Studien widerlegt (siehe Kapitel 1 von „Breaking Together“).
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Zweitens
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ist die Behauptung falsch, dass moderne Gesellschaften mit erneuerbaren Energien funktionieren können, während wir unseren derzeitigen Energieverbrauch beibehalten. Über 80 % der heutigen Primärenergieproduktion stammt aus fossilen Brennstoffen. Selbst wenn wir versuchen würden, alles auf Elektrizität umzustellen und Strom aus Kernenergie, Wasserkraft, Windenergie, Solarenergie, Erdwärme, Gezeiten- und Wellenenergie zu erzeugen, hätten wir nicht genug Metalle für Kabel oder Batterien. Zum Beispiel bräuchten wir für Kabel eine jährliche Kupferproduktion von 250 Jahren und für Lithium die 4.000-fache Jahresproduktion. Bergbau ist umweltschädlich. Und wir müssten riesige Waldflächen abholzen, um die benötigten Metallmengen zu produzieren. Dagegen wird es zu Recht Widerstand geben (siehe Kapitel 3 von „Breaking Together“).
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Drittens
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ist die Behauptung falsch, dass erneuerbare Energien bereits fossile Energieträger verdrängen. Im Gegenteil: Erneuerbare Energien liefern weltweit zusätzliche Energie, während der Verbrauch fossiler Brennstoffe weiter steigt. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass der weltweite Energiebedarf sinkt oder dass politische Maßnahmen darauf abzielen. Wir alle wissen, dass ein Salat zu Kuchen und Chips den Bauch nicht verschwinden lässt. Erneuerbare Energien sind daher noch keine Antwort auf das Problem der Kohlenstoffemissionen aus fossilen Brennstoffen, die den Klimawandel vorantreiben. Nur eine Politik, die darauf abzielt, den Verbrauch fossiler Brennstoffe weltweit zu reduzieren, würde dieses Problem lösen – und davon ist kaum etwas zu sehen.
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Viertens
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ist die Behauptung, die Welt könne Netto-Null-CO2-Emissionen erreichen, eine Lüge. Das liegt nicht nur an den beiden vorhergehenden Lügen über Energieproduktion und ‑nachfrage. Es liegt nicht nur an den Grenzen, die allen Technologien und Ansätzen zur Abscheidung von Kohlenstoff gesetzt sind, um das CO2 aus der Atmosphäre zu entfernen. Es liegt auch an der grundlegenden Rolle, die fossile Brennstoffe oder Erdgas in der heutigen industriellen Landwirtschaft spielen. Wir sind eine auf Getreide basierende Zivilisation. Schätzungen zufolge stammen 50 bis 80 Prozent unserer Kalorien direkt oder über die Tiere, die einige von uns essen, aus fünf Hauptgetreidearten. Etwa 60 % davon werden mit Kunstdünger erzeugt, der derzeit aus fossilen Brennstoffen gewonnen wird. Eine Tonne dieses Düngers setzt doppelt so viel CO2 frei, wie sie wiegt. Und dabei sind die eingesetzten Maschinen und der Transport noch gar nicht berücksichtigt (siehe Kapitel 6 von „Breaking Together“). Mit der Bekandze Farm fördere ich durch meine eigene Arbeit und mein philanthropisches Engagement eine Landwirtschaft ohne Chemikalien, aber ich bin mir bewusst, dass wir für unsere derzeitige Nahrungsmittelversorgung völlig von ihnen abhängig sind.
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Fünftens
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Die Behauptung, dass das Erreichen von Netto-Null-Emissionen die Temperaturen innerhalb weniger Jahre auf ein sicheres Niveau senken würde, ist falsch. Diese Behauptung beruht auf Übertreibungen oder Fehlinterpretationen von Simulationsergebnissen einiger Klimamodelle. In diesen Modellen wurde Methan nicht berücksichtigt. Außerdem deuten neuere Daten zum Entfernen von Aerosolen darauf hin, dass diese einen größeren Anteil an der Erwärmung haben als bisher angenommen. Selbst mit diesen Einschränkungen war die Forschung nicht schlüssig, da einige Modelle eine anhaltende Erwärmung zeigten, während andere keine Erwärmung zeigten, und zwar in dem unmöglichen Szenario, dass die Welt alle CO2-Emissionen gestoppt hätte. Dieses Szenario wäre sogar noch restriktiver als Netto-Null (das immer noch einige Emissionen zulässt).
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Sechstens
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Die Behauptung, dass solche Veränderungen eine nachhaltige Zukunft für alle sichern, ist falsch. Dafür sind sowohl die ökologische Überlastung als auch der Klimawandel bereits zu weit fortgeschritten, während die anhaltende Zerstörung und Verschmutzung zu sehr ein Merkmal der industriellen Konsumgesellschaften ist (siehe Kapitel 1 und 4 von „Breaking Together“). Es ist absurd zu glauben, dass sich das Leben von Milliarden Menschen durch das Einbinden in solche industriellen Konsummuster verbessern lässt. Vielmehr ist der Lebensstil von uns Privilegierten eine zeitlich und räumlich begrenzte Nische: Wenn wir uns um Menschen in Armut kümmern, müssen wir andere Wege der Hilfe finden und selbst weniger konsumieren und die Umwelt weniger verschmutzen.
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Siebtens
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Die Behauptung, alle Kritiker der Energiewende seien Feinde einer nachhaltigen Zukunft, ist falsch. Die Feinde der Menschheit, die glücklich bis ans Ende ihrer Tage in industriellen Konsumgesellschaften lebt, sind die Grundlagen der Physik, Chemie und Biologie. Wenn wir darüber predigen und die Ungläubigen verurteilen, wird diese Zukunft nicht realisierbarer. Stattdessen könnten wir auf einen sanfteren und gerechteren Zusammenbruch und eine weniger dystopische Zukunft hinarbeiten, mit weniger Leid und mehr Freude als sonst. Unsere Feinde sind die Menschen, die uns von der Frage ablenken, wie wir den Verbrauch von Ressourcen verringern und auf gerechte Weise umverteilen können.
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Achtens
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Es ist nicht wahr, dass alle Kritiker von der fossilen Brennstoffindustrie finanziert oder beeinflusst werden. Im Gegenteil, viele von uns sind die radikalsten und unternehmerfeindlichsten Stimmen im Umweltschutz. Wir stehen in der Tradition einer Umweltkritik, die den Klimawandel als Symptom eines zerstörerischen Wirtschaftssystems und der damit verbundenen Politik und Kultur erkennt. Wir wollen die Emissionen reduzieren, aber wir weigern uns, uns einer neuen Fraktion des Kapitals anzuschließen, die aus dieser Katastrophe Profit schlagen will, indem sie unzureichende Lösungen und falsche Hoffnungen verkauft.
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Neuntens
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Die Behauptung, dass Befürworter einer pseudogrünen kapitalistischen Politik ethisch handeln, wenn sie „alles tun“, um ihre Ziele zu erreichen, ist falsch. Es ist nicht ethisch, die Unterstützung für die Rechte indigener Völker, die in Gebieten leben, in denen große Unternehmen Bergbau betreiben wollen, aufzugeben, damit mehr Menschen einen Tesla fahren können. Es ist nicht ethisch, Klimaaktivistengruppen zu infiltrieren, um sie von radikaler Politik abzuhalten. Es ist nicht ethisch, große Technologieplattformen wie Facebook dazu zu drängen, die Reichweite von Analysen einzuschränken, die ihr „falsches grünes Märchen“ in Frage stellen.
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