Die Kunst des Loslassens – Andreas Bangemann

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Eine persön­li­che Praxis zur Über­win­dung alter Denkweisen
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Die Dring­lich­keit, mit der heute von vielen Menschen ein Wandel unse­rer Gesell­schafts- und Wirt­schafts­sys­te­me gefor­dert wird, ist Ausdruck einer tief­grei­fen­den Erkennt­nis: Unsere gegen­wär­ti­gen Struk­tu­ren, die auf unge­brems­tem Wachs­tum, unglei­cher Vertei­lung und ressour­cen­in­ten­si­ver Produk­ti­on beru­hen, sind nicht mehr zukunfts­fä­hig. Das zuneh­men­de Bewusst­sein, dass unsere bishe­ri­gen Wirt­schafts- und Lebens­wei­sen die Grund­la­gen unse­rer Exis­tenz gefähr­den, hat welt­weit zu einer Suche nach neuen Model­len geführt, die Gerech­tig­keit, Nach­hal­tig­keit und Gemein­schaft in den Vorder­grund stellen.

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Diese Zukunfts­mo­del­le erfor­dern jedoch nicht nur einen syste­mi­schen Wandel, sondern auch eine tief­grei­fen­de Trans­for­ma­ti­on unse­res Denkens und Handelns. Die Auffor­de­rung, eine „persön­li­che Praxis des Loslas­sens von alten Denk­wei­sen“ zu entwi­ckeln, erscheint in diesem Zusam­men­hang wesent­lich. Menschen passen sich stän­dig sowohl an äußere Umstän­de als auch an innere Über­zeu­gun­gen und Bedürf­nis­se an. In einem auf Effi­zi­enz und Gewinn­ma­xi­mie­rung ausge­rich­te­ten Wirt­schafts­sys­tem entste­hen Verhal­tens­wei­sen, die nicht auf indi­vi­du­el­le Böswil­lig­keit, sondern auf die Erfor­der­nis­se des Systems selbst zurück­zu­füh­ren sind. Das Zusam­men­spiel von persön­li­chen Über­zeu­gun­gen und struk­tu­rel­len Anfor­de­run­gen führt oft dazu, dass Menschen Hand­lun­gen ausfüh­ren, die den Erwar­tun­gen des Systems folgen – auch wenn sie nicht ihren eige­nen Idea­len entspre­chen. Loslas­sen ist daher keine leich­te Aufga­be; es erfor­dert eine bewuss­te Ausein­an­der­set­zung mit den Mecha­nis­men, die unser Denken prägen, und die Bereit­schaft, alte Sicher­hei­ten zuguns­ten neuer, unsi­che­rer, aber mögli­cher­wei­se frucht­ba­rer Wege aufzu­ge­ben. Der Wald eignet sich als Meta­pher, um die Vorstel­lungs­kraft zu schär­fen, wohin die Reise gehen kann. Auch der mäch­ti­ge Baum im Wald gräbt seine Wurzeln Jahr für Jahr tiefer in den Boden und streckt seine Äste weiter in den Himmel. Doch der Baum, so stolz und stark er auch erschei­nen mag, ist nur ein Teil eines größe­ren Ganzen. Der Wald, ein komple­xes Ökosys­tem aus verschie­de­nen Bäumen, Pflan­zen, Pilzen und Tieren, symbo­li­siert die Viel­falt des Lebens und den stän­di­gen Wandel, der das Leben ausmacht. In diesem Kreis­lauf des Wach­sens, Verge­hens und Wieder­erwa­chens liegt eine tiefe Weis­heit, die uns lehren kann, alte Denk­wei­sen loszu­las­sen und uns auf neue, gemein­sa­me Wege zu begeben.

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1. Die Veran­ke­rung alter Denk­wei­sen im bestehen­den System 

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Bevor wir uns dem Prozess des Loslas­sens widmen, ist es notwen­dig, die Verwur­ze­lung alter Denk­wei­sen zu verste­hen. Wie ein Baum, dessen Wurzeln tief in die Erde reichen, sind unsere alten Denk­wei­sen fest im bestehen­den System veran­kert. In einer kapi­ta­lis­ti­schen Wirt­schaft, die Effi­zi­enz und Profit über alle ande­ren Werte stellt, sind viele unse­rer Über­zeu­gun­gen von den Notwen­dig­kei­ten dieses Systems geprägt. Das Stre­ben nach indi­vi­du­el­lem Erfolg, der Glaube an unend­li­ches Wachs­tum und die Über­zeu­gung, dass Wett­be­werb der Motor für Inno­va­ti­on und Fort­schritt ist, sind nur einige der Vorstel­lun­gen, die unsere gesell­schaft­li­chen Struk­tu­ren durchdringen.

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Diese Denk­wei­sen sind nicht nur das Produkt bewuss­ter Entschei­dun­gen, sondern haben sich über lange Zeit hinweg verfes­tigt, einge­bet­tet in die Insti­tu­tio­nen, Prak­ti­ken und Normen unse­rer Gesell­schaft. Auf ihnen grün­det sich unser Verständ­nis von Arbeit, Wohl­stand und sozia­lem Status und bestimmt, was wir als „normal“ und „erstre­bens­wert“ anse­hen. Gleich­zei­tig führen sie zu einem tiefen Miss­trau­en gegen­über alter­na­ti­ven Model­len, die auf Koope­ra­ti­on, Gemein­schaft und Nach­hal­tig­keit basie­ren. Inso­fern ist das Aufbre­chen alter Denk­mus­ter kein bloßer Willens­akt, sondern ein radi­ka­ler Akt des Wider­stands gegen ein System, das auf Konfor­mi­tät und Konti­nui­tät beruht. Es bedeu­tet, die eige­nen Privi­le­gi­en und Annah­men in Frage zu stel­len und den Mut zu haben, Neuland zu betreten. 

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2. Die Notwen­dig­keit eines Paradigmenwechsels

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Der erste Schritt zur Entwick­lung einer persön­li­chen Praxis des Loslas­sens besteht darin, die Notwen­dig­keit eines tief­grei­fen­den Para­dig­men­wech­sels zu erken­nen. Der dichte Balda­chin eines Waldes, gebil­det durch die ausla­den­den Kronen alter Bäume, lässt kaum Licht auf den Boden fallen. Unter diesen Bedin­gun­gen haben junge Pflan­zen kaum eine Chance zu gedei­hen. Ein Para­dig­ma ist ein Rahmen, durch den wir die Welt sehen und inter­pre­tie­ren. In der Wirt­schaft beispiels­wei­se domi­nie­ren derzeit Vorstel­lun­gen von Wachs­tum, Wett­be­werb und Konsum, die fest im neoli­be­ra­len Para­dig­ma veran­kert sind. Dieses Para­dig­ma hat sich als äußerst verän­de­rungs­re­sis­tent erwie­sen; es durch­dringt nicht nur unsere Wirt­schafts­struk­tu­ren, sondern auch unser Denken und Handeln. Ein Para­dig­men­wech­sel wird in der Land­wirt­schaft versucht: Beispiels­wei­se zielt die rege­ne­ra­ti­ve Land­wirt­schaft darauf ab, die Boden­qua­li­tät zu verbes­sern, die Biodi­ver­si­tät zu fördern und Kohlen­stoff zu spei­chern. Statt auf inten­si­ve, chemie­ba­sier­te Metho­den setzt sie auf natür­li­che Prozes­se und lang­fris­ti­ge Boden­frucht­bar­keit. Dies erfor­dert jedoch ein radi­ka­les Umden­ken bei den Land­wir­ten, die sich bisher auf kurz­fris­tig hohe Erträ­ge konzen­triert haben. Der gesam­te Prozess ist daher keine rein intel­lek­tu­el­le Übung, sondern erfor­dert eine tief­grei­fen­de persön­li­che Trans­for­ma­ti­on. Es bedeu­tet, sich der Unge­wiss­heit und dem Risiko neuer Wege zu öffnen, die viel­leicht nicht sofort die glei­chen Beloh­nun­gen und Sicher­hei­ten bieten wie die alten. Es bedeu­tet auch, bestehen­de Macht­ver­hält­nis­se in Frage zu stel­len und zu erken­nen, wie sie unser Denken formen.

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3. Die Praxis des Loslassens 

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Das Loslas­sen alter Denk­wei­sen kann als eine Form der geis­ti­gen und emotio­na­len Befrei­ung betrach­tet werden. Im Herbst wirft der Baum seine Blät­ter ab, nicht weil sie nutz­los sind, sondern weil sie ihren Zweck erfüllt haben und der Baum sich auf eine neue Phase vorbe­rei­tet. Die Blät­ter fallen zu Boden, zerset­zen sich und nähren den Boden, aus dem neues Leben sprie­ßen kann. Hier einige Schrit­te, die diesen Prozess unter­stüt­zen können:

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Acht­sam­keit und Refle­xi­on: Acht­sam­keit ist eine wesent­li­che Praxis, um alte Denk­mus­ter zu erken­nen und zu hinter­fra­gen. Sie ermög­licht uns, unsere Gedan­ken und Reak­tio­nen zu beob­ach­ten, ohne sie sofort zu bewer­ten oder zu verur­tei­len. Durch Acht­sam­keit können wir erken­nen, wann wir in alten Mustern gefan­gen sind und uns bewusst entschei­den, diese loszu­las­sen. Kriti­sche Refle­xi­on: Eine kriti­sche Refle­xi­on unse­rer Über­zeu­gun­gen und Annah­men ist uner­läss­lich. Das bedeu­tet, nicht nur die eige­nen Gedan­ken zu hinter­fra­gen, sondern auch die gesell­schaft­li­chen Struk­tu­ren, die sie hervor­brin­gen. Welche Annah­men liegen meinen Entschei­dun­gen zugrun­de? Woher kommen diese Annah­men? Wie profi­tie­ren bestimm­te Macht­struk­tu­ren von diesen Denkweisen? 

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Offen­heit für neue Erfah­run­gen und Sicht­wei­sen: Das Loslas­sen von alten Denk­wei­sen erfor­dert Mut und Offen­heit für neue Erfah­run­gen und Perspek­ti­ven. Dies führt zur Ausein­an­der­set­zung mit alter­na­ti­ven Wirt­schafts­theo­rien, zum Expe­ri­men­tie­ren mit neuen Lebens­sti­len oder beispiels­wei­se zum Enga­ge­ment in Gemein­schafts­pro­jek­ten, die auf Koope­ra­ti­on und Soli­da­ri­tät basieren.
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Empa­thie und Soli­da­ri­tät: Ein zentra­ler Aspekt des Loslas­sens ist, sich mit ande­ren Menschen zu verbin­den und ihre Erfah­run­gen und Perspek­ti­ven zu verste­hen. Empa­thie und Soli­da­ri­tät ermög­li­chen es, über den eige­nen Hori­zont hinaus­zu­bli­cken und kollek­ti­ve Bedürf­nis­se und Heraus­for­de­run­gen zu erken­nen, die in einem indi­vi­dua­lis­ti­schen System oft über­se­hen werden. 

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Aktive Betei­li­gung an Verän­de­rungs­pro­zes­sen: Der Abschied von alten Denk­mus­tern darf nicht in passi­ver Akzep­tanz enden. Er erfor­dert die aktive Teil­nah­me an Prozes­sen, die zu syste­mi­schen Verän­de­run­gen führen. Dies kann durch poli­ti­sches Enga­ge­ment, den Aufbau von Gemein­schafts­struk­tu­ren oder die Unter­stüt­zung von Initia­ti­ven zur Förde­rung alter­na­ti­ver Wirt­schafts- und Lebens­mo­del­le geschehen.
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