Der unheilige Martin – Gero Jenner
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Mit dem Strom schwimmen Opportunisten, gegen ihn schwimmen mutige Außenseiter. Eine solche Rolle hat der katholische Moraltheologe Martin Rhonheimer, seines Zeichens Ethikprofessor an der Päpstlichen Universität Rom, übernommen. Während das Oberhaupt seiner Kirche, Papst Franziskus, vom Kapitalismus sagt: „Diese Wirtschaft tötet“, behauptet Rhonheimer das genaue Gegenteil: Die kapitalistische Wirtschaft schaffe Wohlstand. Seiner Meinung nach habe der heilige Martin keineswegs richtig gehandelt, als er seinen Mantel teilte. Stattdessen hätte er besser daran getan, eine Mantelfabrik zu gründen.
Der Gedanke lässt noch weitere Folgerungen offen. Wäre der Heilige zum Beispiel ein vermögender Mann gewesen, dann hätte er nicht etwa hundert Mäntel an hundert Leute verteilt, geschweige denn, ihnen ein bedingungsloses Grundeinkommen gewährt, vielmehr hätte er die Armen aufgefordert, sich selbst zu helfen, indem sie Mäntel in einer Werkstatt nicht nur für sich selbst produzieren, sondern obendrein noch für viele andere Menschen – ein typischer Fall von kapitalistischer Reichtumsvermehrung!
Wir wissen, welche Leute die These Rhonheimers beklatschen,
nämlich die Reichen und Mächtigen. Sie werden dem Moraltheologen Dank dafür wissen, dass er ihnen einen Abglanz von St. Martins Heiligenschein verschafft. Wir wissen natürlich genauso, welche Leute seine These verdammen, nämlich die Armen und Ohnmächtigen. Zweitausend Jahre lang stand die Kirche – nicht nur, aber doch vor allem – auf Seiten der Mächtigen. Dagegen hat das Gründungsdokument der Kirche, die evangelische Botschaft Jesu Christi, und in deren Gefolgschaft eben auch Papst Franziskus eindeutig Stellung für die Ohnmächtigen bezogen. Das tut übrigens auch Carina Kerschbaumer, die Rezensentin der Kleinen Zeitung, eines österreichischen Regionalblatts, die den Theologen schlicht des Zynismus bezichtigt.
Wer hat Recht
in dieser Auseinandersetzung,
die so alt ist wie der Kapitalismus selbst, aber die Geister immer wieder von Neuem bewegt und gegeneinander stellt? Tatsache ist, dass die Gegner und Befürworter dieser These sich in der Regel unversöhnlich bekämpfen. Ich selbst hatte Herrn Rhonheimer dazu gratuliert, dass er es wagt, eine so unpopuläre These öffentlich zu vertreten, hatte aber gleichzeitig darauf bestanden, dass sie sehr gewichtigen Einschränkungen unterliegt. „Gewichtige Einschränkungen“? schrieb Herr Rhonheimer zurück. „Was meinen Sie damit?“ Offenbar ist der Theologe vorbehaltlos auf den Kapitalismus eingeschworen.
I) Zählen wir zunächst die fünf Argumente auf, die für Rhonheimers
Verteidigung des Kapitalismus sprechen. Es sind dies 1) das historische, 2) das faktische, 3) das kontradiktorische, 4) das demographische und 5) das logische Argument.
1. Das historische Argument:
Die industrielle Revolution „hat die äußeren Zwänge der Daseinserhaltung, wie sie für die agrarische Lebensweise bestanden, überwunden und aufgehoben… Indem sie menschliche Sklaverei durch fühllose Maschinensklaven ersetzte, erlöste sie die unteren 90 Prozent innerhalb kürzester Zeit aus ihrer Abhängigkeit und machte sie erst de jure zu gleichwertigen Menschen und schließlich de facto. Das ist – trotz allen Schatten, die sich jedem Menschen zumindest in der westlichen Welt aufdrängen, wenn von industrieller Revolution und Kapitalismus die Rede ist – die unbestreitbare historische Leistung dieser großen geschichtlichen Wende.“
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