Charis und strahlender Glanz – Lars Spuybroek Aus dem Englischen übersetzt von Andreas Bangemann
Die ontologischen Dimensionen von Schönheit
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Immer wenn wir Dinge betrachten, neigen wir dazu, dies mit einem schielenden Blick zu tun, mit zwei Bildern, die sich so überlagern, dass wir ein einzelnes Ding sehen, als ob es zwischen zwei Daseinszuständen schwebt: Einen seiner Teile als ein Ganzes, den anderen als Teilobjekt im Umfeld eines größeren Beziehungsgeflechts, eines Kontexts oder der Welt.
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Das gilt für eine beliebige Person, ein Motorrad, einen Baum, einen Berg, ein Bild, ein Land oder dergleichen. Obwohl viel über dieses Thema gesagt wurde, bleibt das Rätsel bestehen: Dinge bestehen aus Teilen und sind selbst in Beziehungen eingebunden. Dies ist das Standardmodell, und obwohl einige introvertierte Theorien dazu neigen, den ersten Zustand zu betonen und einige extrovertierte den zweiten, müssen beide Zustände als aufeinander bezogen erklärt werden. Dinge führen nicht einfach eine Doppelexistenz, abwechselnd zwischen zwei Zuständen, in einem Moment melancholisch und im nächsten jovial. Sich mit einer solchen Verschachtelung der Existenz zu begnügen, reicht nicht aus, denn die Sets von Existenz machen das Sein zu einem Gebilde von Koexistenz. Es gab völlig vertikale Vorstellungen davon, wie etwa Die Große Kette des Seins, und völlig horizontale, wie die flache Ontologie von De-Landa. Keine von beiden erklärt, wie durch die verschiedenen Größenordnungen die Existenz selbst entsteht. Wenn die Teile glücklich zusammenwirken, um ein Ganzes zu bilden, wie können sie sich gleichzeitig mit dem befassen, was das Ganze erfährt, das sich gerade ineinandergreifend mit anderen Ganzheiten beschäftigt? Solche Fragen müssen beantwortet werden, ohne auf Paradoxie, Mehrdeutigkeit oder andere Formen der Verdoppelung zurückgreifen zu müssen.
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Man muss die Dinge als einzigartig betrachten. Mein Ansatz ist, dass nur die Schönheit die Dinge von einer Ebene auf die andere springen lässt – also nicht Logos oder Physis in irgendeiner Form, sei es nun Mathematik, Philosophie, Stofflichkeit oder die Natur selbst. Schönheit ermöglicht es den Teilen der ersten Ebene, mit denen der zweiten Ebene zu kommunizieren, aber nur durch die Verdichtung des einzelnen Dinges, denn es sind die Dinge, die schön sind, nicht die Teile. Mit Schönheit findet eine gewisse Inversion oder Wandlung statt, ein gewisser Sprung oder eine Drehung zwischen mehreren Ebenen, von den Teilen zum Ganzen wie auch von der Zeit zum Raum, und von der Vertikalen zur Horizontalen wie auch vom Konvergenten zum Divergenten. Seltsamerweise können wir mit Schönheit die Tatsache akzeptieren, dass die Natur Sprünge macht – im Gegensatz zu Darwins Axiom „Natura non facit saltus“ („Die Natur macht keine Sprünge“) –, ohne diese Sprünge zu einer unendlichen Leiter zusammenzufügen, die in den Himmel führt.
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Betrachten wir für einen Moment eine typische Erfahrung von Schönheit. Nehmen wir an, Sie wandern durch den Wald, als plötzlich etwas über Sie kommt – eine Erfahrung, die nicht jedes Mal passiert (und vielleicht auch nie wieder passiert). Bei dieser Gelegenheit rufen Sie jedoch laut aus: „Oh, dieser Geruch!“ oder vielleicht, auf das Laub weisend, „Schau dir das Grün an!“ oder, nach oben weisend, „Schau, wie die Sonne versucht, sich ihren Weg durch das Blätterdach zu bahnen!“ Dies alles sind Beispiele für vertraute Ausrufe als Antwort auf das Schöne, die oft in Kombination, auch hintereinander, auftreten und sich zum typischen Kaskadeneffekt der Schönheit summieren. Ein solches Erlebnis kann jede Form annehmen, solange es die Bekräftigung einer oder mehrerer Eigenschaften (Grün, Geruch, Licht) beinhaltet, begleitet von einem Ausrufezeichen. Wiederum könnte sich die gleiche Art von Erfahrung in der Begegnung mit einem Sonnenuntergang, einem Berg, einem Mädchen, einem Gemälde oder einem Auto ohne Weiteres wiederholen. Oder einem Motorrad oder einem Land. Oder einem Jungen oder einem Mann – diesbezüglich spielen die Varianten keine Rolle. Es geht darum, die ontologische Fügung der Schönheit zu identifizieren, den eigentlichen Sprung oder die Wendung, dass nämlich in der Erfahrung der Schönheit die Teile, aus denen das Ding besteht, in einer absolut einzigartigen Form auf Dich geschüttet oder gar geworfen werden. Teile, zu einem Ganzen verschmolzen, sich aus diesem Ganzen heraus ergießend. Teile, die sich zu einem Ganzen zusammenfügen, weichen von diesem Ganzen ab. Diese Umkehrung möchte ich, wenn auch ein wenig abwägend, das sprunghafte Prinzip der Schönheit nennen. Was zunächst wie eine doppelte Bewegung erscheint – Teile, die sich zusammenfügen, Teile, die überfließen – wird durch die Schönheit in eine einzige Bewegung verwandelt. Nehmen Sie einen Schluck des bestmöglichen Scotchs und nehmen Sie wahr, wie die Noten von Birne, Eiche, Gewürzen und Kokosnuss unaufhörlich über Ihre Zunge rollen und den Raum Ihrer Nase und schließlich Ihren ganzen Kopf, wenn nicht sogar Ihren ganzen Körper ausfüllen. Wie eigenartig ist das? Ist der Scotch von sich selbst abgetrennt und hat sich in Birne, Eiche und Gewürz aufgelöst? Nein, die Birne ist ein untrennbarer Bestandteil des Scotch – was im Reich der Philosophie eine unzulässige Aussage wäre, wie es auch in der Mathematik, der Mengenlehre oder jeder anderen logischen Disziplin der Fall wäre. Ausgenommen in der Ästhetik.
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Schönheit findet im Herzen der Ontologie statt; sie erklärt, wie die Dinge im Innern zusammengesetzt, aber zugleich nach außen gerichtet sind. Schönheit und Existenz müssen als einander innewohnend verstanden werden. Insofern ja, es sind die Teile, die schön sind, aber nicht qua Teile, vielmehr erst nachdem sie zu einem Ganzen zusammengefügt worden sind, von dem sie ausstrahlen. Wenn ich das spezifische Grün der Blätter genieße, dann ist das „von“ genauso wichtig wie das Grün selbst, d. h. wir finden zwar Freude an der Farbe, nehmen sie aber nur als von den Blättern gegeben an, nicht als ein Grün an sich. Es ist sowohl ein Eigentum als auch geteilt, was es kurz gesagt zu einer Gabe macht – eine Manifestation jenes alten Konzepts, das auf verteiltem Besitz basiert. Das Grün wird verschenkt, ohne dass die Blätter de facto von ihm abweichen, während wir genauso gut sagen könnten, dass es eine Eigenschaft ist, die die Blätter nicht besitzen können, da es ein Grünsein ist, das verströmt und nicht zurückbehalten wird.
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Immer wenn wir Dinge betrachten, neigen wir dazu, dies mit einem schielenden Blick zu tun, mit zwei Bildern, die sich so überlagern, dass wir ein einzelnes Ding sehen, als ob es zwischen zwei Daseinszuständen schwebt: Einen seiner Teile als ein Ganzes, den anderen als Teilobjekt im Umfeld eines größeren Beziehungsgeflechts, eines Kontexts oder der Welt.
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Das gilt für eine beliebige Person, ein Motorrad, einen Baum, einen Berg, ein Bild, ein Land oder dergleichen. Obwohl viel über dieses Thema gesagt wurde, bleibt das Rätsel bestehen: Dinge bestehen aus Teilen und sind selbst in Beziehungen eingebunden. Dies ist das Standardmodell, und obwohl einige introvertierte Theorien dazu neigen, den ersten Zustand zu betonen und einige extrovertierte den zweiten, müssen beide Zustände als aufeinander bezogen erklärt werden. Dinge führen nicht einfach eine Doppelexistenz, abwechselnd zwischen zwei Zuständen, in einem Moment melancholisch und im nächsten jovial. Sich mit einer solchen Verschachtelung der Existenz zu begnügen, reicht nicht aus, denn die Sets von Existenz machen das Sein zu einem Gebilde von Koexistenz. Es gab völlig vertikale Vorstellungen davon, wie etwa Die Große Kette des Seins, und völlig horizontale, wie die flache Ontologie von De-Landa. Keine von beiden erklärt, wie durch die verschiedenen Größenordnungen die Existenz selbst entsteht. Wenn die Teile glücklich zusammenwirken, um ein Ganzes zu bilden, wie können sie sich gleichzeitig mit dem befassen, was das Ganze erfährt, das sich gerade ineinandergreifend mit anderen Ganzheiten beschäftigt? Solche Fragen müssen beantwortet werden, ohne auf Paradoxie, Mehrdeutigkeit oder andere Formen der Verdoppelung zurückgreifen zu müssen.
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Man muss die Dinge als einzigartig betrachten. Mein Ansatz ist, dass nur die Schönheit die Dinge von einer Ebene auf die andere springen lässt – also nicht Logos oder Physis in irgendeiner Form, sei es nun Mathematik, Philosophie, Stofflichkeit oder die Natur selbst. Schönheit ermöglicht es den Teilen der ersten Ebene, mit denen der zweiten Ebene zu kommunizieren, aber nur durch die Verdichtung des einzelnen Dinges, denn es sind die Dinge, die schön sind, nicht die Teile. Mit Schönheit findet eine gewisse Inversion oder Wandlung statt, ein gewisser Sprung oder eine Drehung zwischen mehreren Ebenen, von den Teilen zum Ganzen wie auch von der Zeit zum Raum, und von der Vertikalen zur Horizontalen wie auch vom Konvergenten zum Divergenten. Seltsamerweise können wir mit Schönheit die Tatsache akzeptieren, dass die Natur Sprünge macht – im Gegensatz zu Darwins Axiom „Natura non facit saltus“ („Die Natur macht keine Sprünge“) –, ohne diese Sprünge zu einer unendlichen Leiter zusammenzufügen, die in den Himmel führt.
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Betrachten wir für einen Moment eine typische Erfahrung von Schönheit. Nehmen wir an, Sie wandern durch den Wald, als plötzlich etwas über Sie kommt – eine Erfahrung, die nicht jedes Mal passiert (und vielleicht auch nie wieder passiert). Bei dieser Gelegenheit rufen Sie jedoch laut aus: „Oh, dieser Geruch!“ oder vielleicht, auf das Laub weisend, „Schau dir das Grün an!“ oder, nach oben weisend, „Schau, wie die Sonne versucht, sich ihren Weg durch das Blätterdach zu bahnen!“ Dies alles sind Beispiele für vertraute Ausrufe als Antwort auf das Schöne, die oft in Kombination, auch hintereinander, auftreten und sich zum typischen Kaskadeneffekt der Schönheit summieren. Ein solches Erlebnis kann jede Form annehmen, solange es die Bekräftigung einer oder mehrerer Eigenschaften (Grün, Geruch, Licht) beinhaltet, begleitet von einem Ausrufezeichen. Wiederum könnte sich die gleiche Art von Erfahrung in der Begegnung mit einem Sonnenuntergang, einem Berg, einem Mädchen, einem Gemälde oder einem Auto ohne Weiteres wiederholen. Oder einem Motorrad oder einem Land. Oder einem Jungen oder einem Mann – diesbezüglich spielen die Varianten keine Rolle. Es geht darum, die ontologische Fügung der Schönheit zu identifizieren, den eigentlichen Sprung oder die Wendung, dass nämlich in der Erfahrung der Schönheit die Teile, aus denen das Ding besteht, in einer absolut einzigartigen Form auf Dich geschüttet oder gar geworfen werden. Teile, zu einem Ganzen verschmolzen, sich aus diesem Ganzen heraus ergießend. Teile, die sich zu einem Ganzen zusammenfügen, weichen von diesem Ganzen ab. Diese Umkehrung möchte ich, wenn auch ein wenig abwägend, das sprunghafte Prinzip der Schönheit nennen. Was zunächst wie eine doppelte Bewegung erscheint – Teile, die sich zusammenfügen, Teile, die überfließen – wird durch die Schönheit in eine einzige Bewegung verwandelt. Nehmen Sie einen Schluck des bestmöglichen Scotchs und nehmen Sie wahr, wie die Noten von Birne, Eiche, Gewürzen und Kokosnuss unaufhörlich über Ihre Zunge rollen und den Raum Ihrer Nase und schließlich Ihren ganzen Kopf, wenn nicht sogar Ihren ganzen Körper ausfüllen. Wie eigenartig ist das? Ist der Scotch von sich selbst abgetrennt und hat sich in Birne, Eiche und Gewürz aufgelöst? Nein, die Birne ist ein untrennbarer Bestandteil des Scotch – was im Reich der Philosophie eine unzulässige Aussage wäre, wie es auch in der Mathematik, der Mengenlehre oder jeder anderen logischen Disziplin der Fall wäre. Ausgenommen in der Ästhetik.
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Schönheit findet im Herzen der Ontologie statt; sie erklärt, wie die Dinge im Innern zusammengesetzt, aber zugleich nach außen gerichtet sind. Schönheit und Existenz müssen als einander innewohnend verstanden werden. Insofern ja, es sind die Teile, die schön sind, aber nicht qua Teile, vielmehr erst nachdem sie zu einem Ganzen zusammengefügt worden sind, von dem sie ausstrahlen. Wenn ich das spezifische Grün der Blätter genieße, dann ist das „von“ genauso wichtig wie das Grün selbst, d. h. wir finden zwar Freude an der Farbe, nehmen sie aber nur als von den Blättern gegeben an, nicht als ein Grün an sich. Es ist sowohl ein Eigentum als auch geteilt, was es kurz gesagt zu einer Gabe macht – eine Manifestation jenes alten Konzepts, das auf verteiltem Besitz basiert. Das Grün wird verschenkt, ohne dass die Blätter de facto von ihm abweichen, während wir genauso gut sagen könnten, dass es eine Eigenschaft ist, die die Blätter nicht besitzen können, da es ein Grünsein ist, das verströmt und nicht zurückbehalten wird.
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