Alles muss schnell gehen – Karl-Heinz Brodbeck

Beschleu­ni­gung, neue Medien, Geld, Wirtschaft –
warum steht es so schlecht um die Gelassenheit? – - – 

„Gelas­sen­heit“ ist wohl der Begriff, mit dem wir unsere wirt­schaft­li­che, poli­ti­sche und gesell­schaft­li­che Gegen­wart am aller­we­nigs­ten beschrei­ben würden. Es herrscht das schlich­te Gegen­teil: Angst, Aufge­regt­heit, Gier und Aggres­si­on in allen Spiel­ar­ten. Es scheint sogar so, als hätte sich die Entwick­lung beschleu­nigt, um auf ein für nieman­den mehr erkenn­ba­res „Ziel“ zuzu­ra­sen – ein Ziel, das Angst einflößt: Angst vor dem großen Crash, vor Krieg, Natur­ka­ta­stro­phen, poli­ti­schen Verwer­fun­gen, vor dem Herein­drin­gen des Frem­den, um nur ein paar zu nennen. Eine fast völlig von wirt­schaft­li­chen Inter­es­sen domi­nier­te Poli­tik unter­nimmt alles, um die Lebens­um­stän­de der Menschen unauf­hör­lich umzu­wäl­zen und sie vor neue Situa­tio­nen zu stel­len. Die globa­le Rase­rei ist zur Norma­li­tät gewor­den; beglei­tet von den damit einher­ge­hen­den schlech­ten Nach­rich­ten. Der Puls­schlag poli­tisch-wirt­schaft­li­cher Hektik ist allge­gen­wär­tig. Weit entfern­te Ereig­nis­se sind medial ganz nah gerückt und fordern zur Stel­lung­nah­me, zu neuen Entschei­dun­gen heraus, die wieder­keh­rend den je alten Lebens- und Denk­stil infra­ge stellen.
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Der Puls­schlag poli­tisch-wirt­schaft­li­cher Hektik ist allgegenwärtig.
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Lassen sich hinter all dieser Hektik an der media­len Ober­flä­che tiefe­re Prin­zi­pi­en erken­nen? Und kann man diese Prin­zi­pi­en mit dem kontras­tie­ren, was im Begriff der „Gelas­sen­heit“ einmal gedacht, erhofft, erwünscht wurde? Um eine vorläu­fi­ge These zu formu­lie­ren: Die Gesell­schaf­ten der Gegen­wart produ­zie­ren täglich das schlich­te Gegen­teil dessen, was eine alte Tradi­ti­on „Gelas­sen­heit“ nennt. Dass dennoch ein Leben in Gelas­sen­heit nicht unmög­lich gewor­den ist, möchte ich nach­fol­gend zeigen.
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Ich betrach­te zunächst den Begriff der „Gelas­sen­heit“ etwas genau­er. Im Alter­tum, in der Stoa galt als Lebens­ide­al eine gelas­se­ne Haltung, die atar­axia. Seneca spricht von der tran­qui­li­tas animi, der Seelen­ru­he, als dem stoi­schen Ideal. Auch außer­halb der Stoa, in dem, was in die Tradi­ti­on unter dem Begriff „Skep­ti­zis­mus“ einge­gan­gen ist, findet sich eine verwand­te Haltung. Chris­to­pher Beck­wi­th hat in seinem unlängst erschie­ne­nen Buch „Greek Buddha“ die innere Verwandt­schaft des Ursprungs dieser Philo­so­phie bei Pyrrhon mit dem Buddhis­mus aufge­deckt. Pyrrhon war in Indien und lernte vermut­lich den ursprüng­li­chen, noch rein münd­lich über­lie­fer­ten Buddhis­mus kennen. Der Kern von Pyrrhons Lehre besteht in der Aussa­ge, dass wir nichts dauer­haft ergrei­fen und fest­hal­ten können – weder Dinge noch Gedan­ken. Wer mit dem Dharma vertraut ist, wird hierin die Lehre des Buddha wieder­erken­nen. Diese Tradi­ti­on, die über die Grie­chen und Römer auch das Mittel­al­ter Euro­pas erreich­te, drückt sich bei Meis­ter Eckhart in dem Begriff gelâ­zen­heit aus. Das mittel­al­ter­li­che Denken und Lebens­ide­al gipfelt in diesem Wort. Eckhart meinte sogar, dass man auch „Gott“ lassen, nichts also dauer­haft ergrei­fen solle. Erst dies führe zu dem, was die Römer ‚Seelen­ru­he’ nannten.
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Eckhart macht zudem eine wich­ti­ge Unter­schei­dung: Er diffe­ren­ziert in der Predigt Nummer 49 über Johan­nes 4.23 zwischen „gelas­sen-sein“ und „gelas­sen-haben“. Wenn man gelas­sen hat, dann löst man sich von etwas Äuße­rem. Daraus erwächst schritt­wei­se eine Haltung den Menschen und Dingen gegen­über, die zu einem Gelas­sen-sein führt. Man lässt sich nicht mehr grund­le­gend erschüt­tern, weder von Neuig­kei­ten noch von der Vergäng­lich­keit, wie etwa von Besitz, der Tren­nung von Menschen, Verän­de­run­gen im Arbeits­le­ben. Hoff­meis­ter defi­niert in seinem philo­so­phi­schen Wörter­buch „Gelas­sen­heit“ sehr schön als „das feste Beru­hen auf dem eige­nen Wesen“. Damit ist nicht gemeint, keine Bedürf­nis­se zu haben oder Menschen keine Zunei­gung entge­gen­zu­brin­gen. Im Gegen­teil. Wie im Buddhis­mus ist auch hier gemeint, dass wir solche Neigun­gen und Gefüh­le nicht fest­hal­ten, nicht in unse­rem Ego-Terri­to­ri­um als „Mein“ einsper­ren und Unlieb­sa­mes zornig ausgren­zen. Gelas­sen­heit heißt hier: Wir lassen den Menschen, den Dingen ihre eigene Würde, ohne sie kontrol­lie­ren zu wollen.
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Wie prak­ti­ziert man solche Gelas­sen­heit? Durch Acht­sam­keit. Acht­sam­keit hier nicht verstan­den als eine bloße Tech­nik, um etwa mehr beruf­li­chen Erfolg zu haben oder um sich irgend­wie glück­li­cher zu fühlen. Acht­sam­keit heißt, Menschen, die Natur, die Dinge achten, sie – ich zitie­re Martin Heid­eg­ger – „in die Acht nehmen“, dies heißt, sie behü­ten oder sie einfach so sein lassen, wie sie sind. Jemand hat ein neues Auto, einen erfolg­rei­chen Part­ner oder auch nur das neues­te iPhone. Die gewöhn­li­che – im Buddhis­mus sagen wir: die „verblen­de­te“ – Reak­ti­on darauf ist: „Das will ich auch und bin neidisch auf dich.“ Hier zeigen sich in einem Gedan­ken drei Geis­tes­gif­te: Ich will das auch – Ich-Verblen­dung. Ich will das auch – Gier, aber ich neide es dir – Aggres­si­on. Beach­ten wir dage­gen die Dinge, die Ereig­nis­se zunächst einfach so, wie sie erschei­nen, reagie­ren wir in neuen Situa­tio­nen auf andere zunächst vorur­teils­frei und mit Empa­thie, dann nähern wir uns der Gelas­sen­heit. Acht­sam­keit und Mitge­fühl sind der zuver­läs­si­ge Weg dort­hin. Das Ich defi­niert sich durch Abhän­gig­keit und Ausgren­zung, durch Ergrei­fen und Fest­hal­ten. Angst und Unge­wiss­heit sind die Folge. Das ruhige Gewah­ren und Ruhen in uns selbst wird immer wieder vom Lärm der Sinnes­ein­drü­cke, ganz zu schwei­gen von der media­len Beläs­ti­gung abgelenkt.
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Das „Ich“ defi­niert sich durch Abhän­gig­keit und Ausgren­zung, durch Ergrei­fen und Festhalten.
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Das zupa­cken­de und ausgren­zen­de Ich ist in dieser Verstri­ckung vor allem auch todernst. Wir nehmen die äuße­ren Dinge mit Sorgen­fal­ten wahr, beson­ders das, was heute neu erscheint und morgen schon wieder alt gewor­den ist. Ein oftmals befrei­en­der Weg zu mehr Gelas­sen­heit kann die Aus-Gelas­sen­heit, der Humor sein. Wenn wir ausge­las­sen sind – beim Tanzen, mit Freun­den, beim Herum­al­bern –, dann machen wir schon einen Schritt weg vom Fest­hal­ten unse­rer Ich-Gren­zen, vom Ergrei­fen des jeweils Verlo­cken­den. Man macht sich lustig über die Gier, das Neues­te haben zu wollen, und über­nimmt nicht sofort eine Meinung aus den Medien, auch wenn sie ober­fläch­lich plau­si­bel erscheint. Die heite­re Distanz, die der Witz schaf­fen kann, wird auch durch ruhi­ges, vernünf­ti­ges Nach­den­ken erreicht. „Witz“ ist ein altes Wort für Klug­heit und Verstand. Die kriti­sche Prüfung von Meinun­gen macht uns nicht blind für die Ereig­nis­se des Tages. Sie schafft aber dadurch, dass wir inne­hal­ten und etwas zunächst auf sich beru­hen lassen, eine Offen­heit, einen Raum, in dem sich die Dinge dann auch ganz anders darstel­len können. Wie bei einem guten Witz, der die Blick­wei­se plötz­lich völlig umkehrt und uns zum Lachen bringt.
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Gelas­sen­heit ist also nicht – wenigs­tens nicht notwen­dig – eine welt­fer­ne Sache. Zwei­fel­los haben die Nonnen und Mönche des christ­li­chen Mittel­al­ters und im Buddhis­mus Gelas­sen­heit durch Distanz, durch Abstand von der Welt gefun­den: im Klos­ter oder – wie es im frühen Buddhis­mus heißt – in der „Wald­ein­sam­keit“.

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