Allzu bequeme Ausflucht – Pat Christ

Allzu beque­me Ausflucht



Immer weni­ger Unter­neh­men rich­ten sich in Deutsch­land nach einem Tarifvertrag



Ein Sommer­tag im Juli 2005 in Würz­burg. Der Landes­ver­band Baye­ri­scher Spedi­teu­re trifft sich zur Mitglie­der­ver­samm­lung. Ein Haupt­punkt der Tages­ord­nung betrifft das Thema Tarif­bin­dung: Der Verband beschloss, ab sofort auch Unter­neh­men ohne Tarif­bin­dung (OT) aufzu­neh­men. Die Verbands­mit­glie­der sollen außer­dem die Möglich­keit bekom­men, aus dem Tarif­ver­trag auszu­stei­gen. Die entspre­chen­de Satzungs­än­de­rung wird einstim­mig beschlossen.



Immer mehr Betrie­be in den unter­schied­lichs­ten Bran­chen stie­gen in den vergan­ge­nen Jahren aus dem Tarif­ver­trag aus. Zu den häufigs­ten Argu­men­ten zählt: „Stei­gen­der Wett­be­werbs­druck“. Die Unter­neh­men möch­ten die von den Verbän­den mit den Gewerk­schaf­ten ausge­han­del­ten Lohn­er­hö­hun­gen nicht mitma­chen, um Kosten zu redu­zie­ren. Was für die Beschäf­tig­ten bedeu­tet, dass sie nach jeder Tarif­run­de noch einmal weni­ger verdie­nen als ihre Kolle­gen in der glei­chen Bran­che, die bei tarif­ge­bun­de­nen Arbeit­ge­bern tätig sind.



So können auch nach der Satzung des Baye­ri­schen Einzel­han­dels­ver­bands (HBE) Mitglie­der erklä­ren, dass sie keine Bindung an die Tarif­ver­trä­ge wünschen. Die grund­sätz­li­che Zuläs­sig­keit solcher Mitglied­schaf­ten bestä­tig­te das Bundes­ar­beits­ge­richt (BAG) in seiner Entschei­dung vom Juli 2006.



Das Garten­cen­ter Dehner stieg im März 2009, also in einem Krisen­jahr der deut­schen Wirt­schaft, mit dem Argu­ment „Zu hoher Wett­be­werbs­druck“ bei allen regio­na­len Einzel­han­dels­ver­bän­den aus dem Tarif­ver­trag aus. Aller­dings soll das Unter­neh­men just in diesem Krisen­jahr seinen Gewinn um fast 17 Prozent auf 8,9 Millio­nen Euro gestei­gert haben. Die Gewerk­schaft warf Dehner denn auch vor, die Rendi­te auf Kosten der Mitar­bei­ter erhö­hen zu wollen. Ver.di orga­ni­sier­te eine Protest­kar­ten­ak­ti­on, an der sich mehr als 30.000 Kundin­nen und Kunden betei­lig­ten. Ohne Erfolg.



Spira­le der Verschlechterungen



Tarif­flucht ist auch ein gängi­ges Phäno­men in der Print- und Druck­bran­che. Ein Beispiel von vielen: C. H. Beck. 2011 flüch­te­te Dr. Hans Dieter Beck, Verle­ger des Beck-Verlags in München mit der Drucke­rei C. H. Beck in Nörd­lin­gen und Träger des Bundes­ver­dienst­kreu­zes, aus den Tarif­ver­trä­gen der Druck­in­dus­trie und wech­sel­te in eine OT-Mitgliedschaft.



„Für die betrof­fe­nen Mitar­bei­ter bedeu­tet dieser Zustand deut­li­che Verschlech­te­run­gen. Absen­kung der Löhne und Gehäl­ter, unbe­zahl­te Arbeits­zeit­ver­län­ge­rung, Lohn­kür­zung durch abge­senk­te Zuschlä­ge und die Redu­zie­rung von tarif­li­chen Sonder­zah­lun­gen sind die Folgen. Die Spira­le der Verschlech­te­run­gen geht weiter“, so Josef Zuber, Betriebs­rats­vor­sit­zen­der der Drucke­rei C. H. Beck.



2013 feier­te C. H. Beck sein 250-jähri­ges Firmen­ju­bi­lä­um. Aus diesem Anlass erhiel­ten die Beschäf­tig­ten eine Grati­fi­ka­ti­on. Die aller­dings wurde in unter­schied­li­chen Höhen ausge­zahlt: Wer sich nach dem Wech­sel zu neuen Verträ­gen hatte über­re­den lassen, erhielt 1.500 Euro. Mitar­bei­ter mit „Altver­trä­gen“, also mit nach­wir­ken­der Tarif­bin­dung, beka­men nur 800 Euro.



Das Landes­ar­beits­ge­richt entscheidet


Das Arbeits­ge­richt Augs­burg hielt das auch für in Ordnung: Der Charak­ter, der etwa einer Lohn­er­hö­hung zukommt, könne bei einer Prämie anläss­lich des Firmen­ju­bi­lä­ums nicht ange­nom­men werden. Die Beschäf­tig­ten hinge­gen sehen einen Verstoß gegen den Gleich­be­hand­lungs­grund­satz. Deswe­gen zogen sie vor das Landes­ar­beits­ge­richt in München, das nun zu entschei­den hat.



Seit dem Jahr 2013 kämp­fen die Beschäf­tig­ten beim Online­händ­ler Amazon um einen Tarif­ver­trag. „Während nach Tarif für den Groß­teil der Lager­ar­bei­ten im Versand­han­del zwischen 11,47 und 11,94 Euro Einstiegs­ge­halt gezahlt wird, schickt Amazon seine Mitar­bei­ter mit einem Gehalt von 9,65 bis 11,12 Euro nach Hause“, heißt es von der Gewerk­schaft ver.di. „Wir haben nicht vor, einen Tarif­ver­trag abzu­schlie­ßen. Er stünde nicht im Einklang mit unse­rem Ansatz, Mitar­bei­ter am Erfolg von Amazon zu betei­li­gen“, erklärt hierzu Armin Coss­mann als Vertre­ter der deut­schen Versandzentren.



Das Thema „Tarif­flucht“ gehört zu den zahl­rei­chen Proble­men in unse­rer Gesell­schaft, die aufzei­gen, wie notwen­dig struk­tu­rel­le Verän­de­run­gen unse­res Wirt­schafts- und Geld­sys­tems sind. So kam die Bertels­mann-Stif­tung zu dem Schluss, dass der Haupt­grund für die zuneh­men­de Ungleich­heit der Einkom­men in Deutsch­land die Erosi­on der klas­si­schen Tarif­ver­trags­ar­beits­ver­hält­nis­se ist. 2013 sollen 58 Prozent der Einzel­händ­ler, 59 Prozent der Gastro­no­mie­an­ge­stell­ten und sogar 67 Prozent der Infor­ma­ti­ons- und Kommu­ni­ka­ti­ons­be­schäf­tig­ten ohne jede Tarif­bin­dung gear­bei­tet haben.



Im Westen ist die Tarif­bin­dung noch etwas stär­ker als im Osten, nimmt aber auch hier seit Jahren konti­nu­ier­lich ab. Die Zahl der Unter­neh­men mit Haus­ta­rif­ver­trä­gen wächst hinge­gen. Genaue Zahlen hat das Insti­tut für Arbeits­markt- und Berufs­for­schung (IAB). Laut dem IAB-Betriebspa­nel waren 1998 noch 76 aller in West­deutsch­land Beschäf­tig­ten tarif­ge­bun­den. Heute sind es nur noch 60 Prozent. In Ostdeutsch­land gab es bereits 1998 ledig­lich 63 Prozent tarif­ge­bun­de­ne Arbeit­neh­mer. Aktu­ell ist nicht einmal mehr jeder zweite Arbeit­neh­mer durch eine Tarif­bin­dung geschützt.



Dumping­löh­ne im Journalismus


Im Durch­schnitt erhal­ten Beschäf­tig­te mit Tarif­ver­trag 19 Prozent mehr Lohn und Gehalt als ihre Kolle­gIn­nen in tarif­lo­sen Betrie­ben. Beschäf­tig­te mit Tarif­bin­dung erhal­ten laut dem Tarif­ar­chiv des Wirt­schafts- und Sozi­al­wis­sen­schaft­li­chen Insti­tuts (WSI) zu 58 Prozent ein Urlaubs­geld, Beschäf­tig­te ohne Tarif­bin­dung dage­gen nur zu 32 Prozent. Der Ausstieg aus dem Tarif­ver­trag wieder­um hat Lang­frist­fol­gen, denn auf diese Weise sinken auch die Renten, die Alters­ar­mut nimmt zu. Aktu­ell bezie­hen 512.000 Menschen in Deutsch­land die Sozi­al­leis­tung „Grund­si­che­rung im Alter“, weil ihre Rente nicht zum Leben ausreicht.



Zu den von Tarif­flucht am stärks­ten betrof­fe­nen Bran­chen gehö­ren die Arbeits­fel­der „Kommu­ni­ka­ti­on“ und „Infor­ma­ti­on“. So ist gerade auch in der Zeitungs­bran­che Tarif­flucht weit verbrei­tet, zeigt der Deut­sche Jour­na­lis­ten­ver­band (DJV) auf. Die Sport­re­dak­teu­re des Schles­wig-Holstei­ni­schen Zeitungs­ver­lags wurden zum Beispiel 2005 in eine GmbH ausge­la­gert, die unter­ta­rif­lich bezahlt. Die Volon­tä­re der West­deut­schen Allge­mei­nen Zeitung werden zu unter­ta­rif­li­chen Gehäl­tern bei der WAZ-eige­nen Jour­na­lis­ten­schu­le Ruhr einge­stellt. Wer beim West­fä­li­schen Anzei­ger einen neuen Job bekommt, erhält eben­falls weni­ger Geld und wird nicht über das Pres­se­ver­sor­gungs­werk versi­chert. Redak­teu­re der Hanno­ver­schen Allge­mei­nen Zeitung und der Neuen Presse protes­tier­ten im März 2014 gegen „gnaden­lo­se Ratio­na­li­sie­rung und Tarif­flucht auf Kosten der Mitarbeiter“.



Als eine weite­re Form der Tarif­um­ge­hung wertet der DJV den Einsatz von so genann­ten Leih­ar­beit­neh­mern in den Redak­tio­nen, etwa bei der Nord­see-Zeitung, der Rhein­pfalz oder der Säch­si­schen Zeitung. Auch bei der Offen­bach-Post werden Neue unter Tarif entlohnt. Die sozia­le Unsi­cher­heit der Redak­teu­re, so der DJV, beein­flusst wieder­um die Quali­tät der jour­na­lis­ti­schen Arbeit und damit den Wert der Medien. 

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