Digitalisierung – Pat Christ

Digi­ta­li­sie­rung – Wie ich sie empfin­de und was andere darüber denken. – Pat Christ
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Als Quali­fi­ka­ti­on brach­te ich noch nicht einmal das Abi mit. Das sollte ich erst zwei Jahre später able­gen – mehr schlecht als recht. Was ich mitbrach­te, war eine riesi­ge Neugier auf die Welt. Die Bereit­schaft, mich rein­zu­hän­gen. Und die Lust am Schrei­ben. Damit ausge­stat­tet, hielt ich 1987 mit 17 Jahren Einzug in eine kleine Redak­ti­on meiner Geburts­stadt Aschaf­fen­burg, die es längst nicht mehr gibt. Ich tippte auf einer alten Schreib­ma­schi­ne. Das Fax, das ich erst­mals bedien­te, erschien mir als Wunderding.
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Ein Thema hatte ich immer parat. Schließ­lich wird für den wachen jour­na­lis­ti­schen Blick „alles“ zum Thema. Heute kann ich mich an keinen einzi­gen Bericht mehr erin­nern. Nur das weiß ich: Ich „schwamm“ in Frei­heit. Nicht als Prak­ti­kan­tin. Oder Hospi­tan­tin. Nicht als Ange­stell­te. Schlicht als Jugend­li­che, die mit immensen Ambi­tio­nen daran­ge­hen wollte, hinter die Kulis­sen dieser Welt zu blicken. Natür­lich wurde das, was ich fabri­zier­te, von den älte­ren Kolle­gen noch mal gecheckt. War es in Ordnung, wurde das grüne Papier, das für die Über­schrift bestimmt war, über den Text geklebt. Ausge­füllt. Dann ging der Arti­kel via Faxge­rät nach Würz­burg. Wo die Zeitung gedruckt wurde.
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So begeis­tert ich selbst einst war, würde ich heute nieman­dem mehr raten, in diesen Beruf einzu­stei­gen. Das liegt in erster Linie an dem, was das Digi­ta­le mit dem Jour­na­lis­mus gemacht hat. Wie krass sich die Dinge zum Nega­ti­ven verän­der­ten, kann viel­leicht nur dieje­ni­ge erfas­sen, die, wie ich, das für heuti­ge Zeiten märchen­haft erschei­nen­de Glück hatte, sich in völli­ger Frei­heit jour­na­lis­tisch auszu­to­ben. Inzwi­schen schrumpf­ten die Frei­heits­räu­me in dem Maße, in dem das Digi­ta­le uns über­rollt hat. Der „Geist“ der Maschi­ni­sie­rung hält Einzug in einen zum „Produkt“ degra­dier­ten Bereich, bei dem es eigent­lich darum gehen sollte, Demo­kra­tie möglich zu machen.
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Natür­lich war es im Rück­blick und aus heuti­ger Sicht reich­lich unbe­quem, offline zu arbei­ten. Ich erin­ne­re mich an jene Zeit, als ich in Würz­burg für eine andere Zeitung tätig war. Dort muss­ten wir das Mate­ri­al, umge­kehrt wie damals in meiner Anfangs­zeit, zum Drucken nach Aschaf­fen­burg schi­cken. Das war Anfang der 90er Jahre. Wir foto­gra­fier­ten noch analog und jeder war mal dran, in das nahe der Redak­ti­on gele­ge­ne Foto­ge­schäft zu tigern, um Abzüge machen zu lassen. Die Fotos gingen dann mit einem bestimm­ten Express­zug nach Aschaffenburg.
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Dann wurde diskutiert
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War sams­tags eine Geschich­te zu schrei­ben, tippte ich die auf dem heimi­schen, noch nicht mit dem Netz verbun­de­nen Compu­ter und brach­te die Disket­te sonn­tags in die Redak­ti­on. Da las ich den Text zusam­men mit dem sonn­tags­dienst­ha­ben­den Redak­teur ein und noch mal aufmerk­sam durch. Meist ging der gesam­te Nach­mit­tag drauf. Der Text gab Anlass, über dieses oder jenes, meist kontro­vers, zu disku­tie­ren. Dafür war am Sonn­tag Zeit. Kaum, dass das Tele­fon mal klin­gel­te. Es war an diesem letz­ten Tag der Woche nie allzu viel zu tun. Wir prak­ti­zier­ten, jenseits jeder Defi­ni­ti­on, von nieman­dem befoh­len und ohne festes Ziel, das, was man heute so gern „Team­buil­ding“ nennt.
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Wenn ich manch­mal denke, ob ich den „Job“ nicht besser an den Nagel hängen sollte, gehen mir diese Bilder von einst durch den Sinn. Heute wird in unse­rer Bran­che kaum mehr mitein­an­der gere­det. Die Frei­heit schwin­det. Jüngst musste ich mich von einem lang­jäh­ri­gen Auftrag­ge­ber tren­nen, weil er sämt­li­che Inter­ak­tio­nen zwischen freien Exter­nen und inter­nen Redak­ti­ons­mit­glie­dern nur noch über ein seelen­lo­ses System abwi­ckelt. Wird ein Themen­vor­schlag geneh­migt, schreibt das System ohne Rück­spra­che aufs Zeichen genau und ohne Begrün­dung vor, wie lang der recher­chier­te Text werden darf. Und wann er, auf die Stunde genau, abzu­lie­fern ist.
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Bringe ich diesen Unsinn aufs Tapet bei den selte­nen Gele­gen­hei­ten, wenn ich mal eine Kolle­gin treffe, sagen alle: „Klar, das ist völlig absurd!“ Denn wie soll jemand, der nie mit mir darüber gespro­chen hat, genau wissen, wie viel in einer Recher­che­idee steckt? Wie kann derje­ni­ge auf die Stunde genau wissen, wann die Geschich­te fertig recher­chiert ist? Das weiß ich doch selbst nicht. Bis das Thema geneh­migt ist, kann ich auch mit nieman­den in Kontakt treten, von dem ich gern ein State­ment hätte. Manchen Leuten laufe ich – ohne Über­trei­bung – mona­te­lang nach. Weil ihnen vor anvi­sier­ten Tref­fen immer wieder was dazwi­schen­kommt. Aber so etwas sieht das System nicht vor.
10. Septem­ber, 10.30 Uhr
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Dieje­ni­gen, die heute Redak­tio­nen mana­gen, sind oft keine Jour­na­lis­tin­nen mehr. Das ist das Problem. Sie sehen ein Infor­ma­ti­ons­ma­nage­ment­sys­tem wie das oben beschrie­be­ne und sind begeis­tert: Ich lege ein Datum fest, den 10. Septem­ber um 10.30 Uhr, lass mir zusi­chern, dass das Mate­ri­al genau dann im genau fest­ge­leg­ten Umfang gelie­fert wird, und weiß demnach, wie ich den Platz auf Seite 10 am 11. Septem­ber füllen kann. Das klingt in der Theo­rie gut. Funk­tio­niert aber im (jour­na­lis­ti­schen) Leben nicht. Denn Jour­na­lis­mus ist etwas Leben­di­ges, das sich nicht in Manage­ment­sys­te­me pres­sen lässt. (Wobei erstaun­li­cher­wei­se so gut wie alle versu­chen, dem Diktat getreu mitzumachen.)
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Sie über­rol­len uns, die digi­ta­len Errun­gen­schaf­ten. Und es vergeht so gut wie kein Tag, an dem nicht über die Digi­ta­li­sie­rung disku­tiert wird. Im Bundes­tag. In den Land­ta­gen. An den Univer­si­tä­ten. In Ausschüs­sen. Semi­na­ren. Auf Praxis­ta­gen. Versamm­lun­gen. Fach­kon­gres­sen. Work­shops. Sympo­si­en. Bei Pres­se­kon­fe­ren­zen. Fach­ta­gen. Bundes­fo­ren. Oder in Gesprächs­krei­sen. Meist geht es um das Für und Wider mit sehr deut­li­cher Tendenz zum „Für“. Ich greife, ange­regt von Martin Brei­den­bach, Archi­tekt aus Vier­sen, den ich aus Veran­stal­tun­gen in Wupper­tal kenne, in diesem Beitrag, ausge­hend von meinen eige­nen Erfah­run­gen, allein das „Wider“ auf.
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Auch Martin Brei­den­bach langt es. Das jeden­falls entneh­me ich seinem Schrei­ben an mich. Brei­den­bach wirft die Frage auf, ob denn das, was sich unter der Über­schrift „Digi­ta­li­sie­rung“ voll­zieht, noch „menschen­ver­träg­lich“ ist. Alles „wirk­lich Liebe und Werte“, so Brei­den­bachs Ansicht, ist analog. Auch ich kann mir die Liebe zu einem ande­ren Menschen nicht digi­tal vorstel­len. Womit ich nicht allei­ne daste­he. Kürz­lich stieß ich auf das Buch von Eva Illouz „Warum Liebe endet“. Die Sozio­lo­gin kommt zu dem Schluss, dass digi­ta­le Kommu­ni­ka­ti­on und Dating-Apps Bezie­hun­gen flüch­tig machen.
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