Die Erde als Tempel – Charles Eisenstein
Die Überwindung der erlösenden Gewalt
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Von Charles Eisenstein – Übersetzung: Vanessa Groß
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Diese Essayreihe soll einen Weg aufzeigen, das alte Muster zu überwinden, bei dem die Gesellschaft ihre Wut, Ängste und Rivalitäten an einer entmenschlichten Opfergruppe entlädt. René Girard nennt dieses Muster opferkultische Gewalt. Diese unterschwellige Kraft wächst in Zeiten sozialer Spannungen, wie während einer Wirtschaftskrise, Hungersnot, Epidemie oder bei politischen Unruhen. Dann können elitäre Kräfte sie zu faschistischen Zwecken missbrauchen.
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Im dritten Teil dieser Reihe habe ich die Stigmatisierung und Ächtung der Ungeimpften als ein brandaktuelles Beispiel einer Mobdynamik in Aktion beleuchtet. Allerdings reicht die Mobdynamik weit über das Impfthema hinaus und betrifft die Impfgegner nicht weniger, bei denen oft die gleichen Gedankenmuster erkennbar sind: Wir sind die Guten, die anderen die Bösen. Wir sind rational, die anderen irrational. Wir sind bewusst, die anderen schlafen. Wir handeln ethisch korrekt, die anderen sind korrupt. Keine Dissidentenbewegung, auch nicht diese, ist vor der Grobheit gefeit, die wie ein systemisches Gift die heutige Politik durchdringt.
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Selbstgerechtigkeit, Spott, Beschimpfung und Verachtung sind notwendige Vorläufer des Girard‘schen Sündenbockmechanismus. Gleichzeitig sind sie mächtige rhetorische und psychologische Werkzeuge, um Truppensolidarität zu erzeugen: Wenn du von unseren Ansichten abweichst, werden wir auch dich der Lächerlichkeit preisgeben. Menschen wissen instinktiv um die Gefahr, die von der Verhöhnung und der rituellen Erniedrigung durch die Gruppe ausgeht. Es handelt sich um ein uraltes Muster. Zunächst verspottet und verhöhnt die Menge das Opfer, um es dann mit Unrat zu beschmieren, es zu etwas Verächtlichem und Widerwärtigen zu machen. Dann fliegen die Steine.
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Eine solche Taktik vermag die eigenen Reihen zu disziplinieren und einen Teil der Zaungäste zur Kooperation zu bewegen. Bevor mir dies bewusst wurde, fühlte auch ich mich überlegen, wenn ich etwas Abwertendes über die „Idioten“ las (also die, die eine andere Meinung als der Autor vertraten). Hinter der Überlegenheit fühlte ich Zugehörigkeit und Sicherheit. Möglicherweise hätte ich sogar nur deswegen beigepflichtet, um mich überlegen, zugehörig und sicher zu fühlen. Diese Taktik funktioniert so: „Willst du ein guter Mensch sein und nicht verachtenswert? Dann sei meiner Meinung!“
Sie ist jedoch kontraproduktiv, wenn sie diejenigen adressiert, die eine klare Gegenposition vertreten. Die Verächtlichmachung – zurecht als Angriff gewertet – treibt sie dazu, ihre Reihen zu schließen und mit gleichen Waffen zurückzuschlagen. Viele der Unentschlossenen wenden sich ebenfalls in dem Moment ab, wenn sie sehen, dass es hier nicht mehr um Vernunft und den aufrichtigen Wunsch geht, im gemeinsamen Dialog die Wahrheit zu finden. Hier tobt ein Kampf, oder weiter gefasst: ein Krieg, und im Krieg dienen beide Seiten dem Sieg, nicht der Wahrheit, ganz gleich was sie nach außen hin vorgeben.
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Ein Sprichwort sagt: „Die Wahrheit ist das erste Opfer des Krieges.“ Und die erste Lüge des Krieges ist dieselbe wie die der Mobgewalt, des Pogroms und der Hexenjagd: dass bestimmte Menschen keine richtigen Menschen seien. Solange wir diese Lüge nicht entlarven, wird sich dieses tragische historische Muster wiederholen. Auch in unserer persönlichen und kollektiven Sinnfindung werden wir im Nebel tappen.
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Dieser letzte Punkt ist möglicherweise nicht so offensichtlich. Auf das Risiko hin, die Zensur zu provozieren, werde ich also die Impfkontroverse nutzen, um aufzuzeigen, wie Entmenschlichung uns für die Wahrheit blind macht. Auf Seiten der Impfskeptiker hält die Vorstellung, dass Virologinnen und andere Wissenschaftler ahnungslos, korrupt, wahnhaft oder inkompetent seien, Skeptiker davon ab, wesentliche Erkenntnisse aus den Mainstream-Wissenschaften zu nutzen. Leichtgläubig halten sie dann spekulative oder leicht zu entlarvende Theorien für die Wahrheit und es gelingt ihnen nicht, sie von gehaltvolleren Aussagen zu unterscheiden. Das stiftet Verwirrung in ihren Reihen.
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Hier ein Beispiel: die Falschmeldung, die in einigen Lagern der Impfskeptiker verbreitet ist, dass „kein Coronavirus isoliert worden und nach den Koch‘schen Postulaten bewiesen worden“ sei. Während das technisch richtig ist, stellt es gleichzeitig eine unmögliche Forderung dar. Die Koch‘schen Postulate wurden für Bakterien formuliert, die (häufig) auf Nährmedien gezüchtet und dann „isoliert“ werden können. Viren können nur in lebenden Zellen gezüchtet werden; daher wird jede Probe mit viralen Teilchen auch Zellreste enthalten, einschließlich nicht viraler DNS und RNS. Aus diesem Grund werden kombinatorische Methoden angewendet, um das virale Genom zu ermitteln. Wer meint, dass hunderttausende Virologen die vergangenen fünfzig Jahre damit verbracht haben, eine Halluzination zu erforschen, muss sie für korrupte Idioten halten, die nicht in der Lage sind, das Offensichtliche zu erkennen. Sie als solche zu sehen, verhindert die Kommunikation, das Lernen und die gemeinsame Suche nach der Wahrheit. Auch lenkt es von legitimer und differenzierter Kritik an konventionellen Paradigmen der Virologie und Impfstoffwissenschaften ab. Orthodoxe Wissenschaftler, die uninformierte Kritik satthaben, verhärten dann ihre Haltung auch gegen legitime Kritik.
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Indem sie die ganze Skeptikerbewegung über einen Kamm schert, nämlich den ihrer unvernünftigsten Vertreter, nimmt die Impfbefürworterseite häufig an, die Impfskeptiker seien ein Haufen Fanatiker, die nur ihre eigene „Freiheit“ sehen, auf Kosten der öffentlichen Gesundheit. Wie viel Aufmerksamkeit werden sie dann den Whistleblowern, andersdenkenden Wissenschaftlern und erschreckenden Berichten von Impfschäden schenken, die es nicht in offizielle Datenbanken schaffen?
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Ein anschauliches Beispiel dieser Taubheit ist mir heute begegnet, als ich einige Instagram- und TikTok-Kanäle von Menschen durchforstet habe, die behaupten, Impfschäden erlitten zu haben. Sie berichten beispielsweise von wochenlangem Zittern, das kurz nach der Impfung begonnen hat, von Unterleibslähmungen, Schlaganfällen, Sprachverlust und anderen gravierenden Einschränkungen. Viele berichten auch, dass ihre Ärzte meinten, dass es Zufall sei und nichts mit der Impfung zu tun habe. Mir erscheinen sie ehrlich – vielen allerdings offenbar nicht. Die Kommentarspalten sind voller Hasskommentare: „Fake“, „Clown“ und „Lügnerin“ gehören noch zu den milderen unter ihnen. „Bekloppte“, Drohungen das Jugendamt einzuschalten, um ihnen die Kinder wegzunehmen, frauenfeindliche Beleidigungen (es sind mehrheitlich Frauen, die von Impfschäden berichten). Ja, es ist denkbar, dass diese Menschen nur simulieren, aber woher wollen die Kommentierenden das so genau wissen? Wie kann Instagram sicher sein, dass diese Posts „schädliche Falschmeldungen“ enthalten, wenn es sie entfernt? Außerdem: Nun da diese Form der Unterdrückung institutionalisiert ist, wie können wir als Kollektiv wissen, wie weit Impfschäden tatsächlich verbreitet sind? Kommunikatives Versagen lässt uns hier im Dunkeln tappen.
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