Die Lust am Pro­bie­ren – Ste­fan Selke

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Öffent­li­che Wissen­schaft am Real­la­bor und Lern­ort RCE Südschwarzwald
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Wir leben in einer Neben­fol­gen­ge­sell­schaft, einer Gesell­schaft, in der Tech­no­lo­gien in einer Endlos­spi­ra­le immer wieder neue Problem­ge­ne­ra­tio­nen schaf­fen. In Zukunft sehen wir uns zudem im loka­len, regio­na­len, natio­na­len und globa­len Maßstab immer häufi­ger entgrenz­ten Problem­stel­lun­gen gegen­über. Bishe­ri­ge Ansät­ze sind zu deren Lösung nicht länger geeig­net. Um diesem Kreis­lauf zu entkom­men, wird ein neues Mischungs­ver­hält­nis zwischen tech­no­lo­gi­schen und sozia­len Inno­va­tio­nen benö­tigt. Wir soll­ten lernen, diesen Prozess zu orga­ni­sie­ren, d.h. wir benö­ti­gen eine expe­ri­men­tel­le Wende. Am Beispiel meiner eige­nen Arbeit möchte ich exem­pla­risch von Poten­zia­len und Patho­lo­gien eines derar­ti­gen Lern­pro­zes­ses berichten.
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Kompe­tenz­zen­trum für Nach­hal­tig­keit Südschwarzwald
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Mit der Etablie­rung eines soge­nann­ten Real­la­bors in der länd­li­chen Region Südschwarz­wald nahm dieser Prozess Gestalt an: Dem Kompe­tenz­zen­trum für Nach­hal­tig­keit (Regio­nal Centre of Exper­ti­se, kurz: RCE) an der Hoch­schu­le für Ange­wand­te Wissen­schaf­ten in Furt­wan­gen (www.hs-furtwangen.de). Der Ansatz hat dabei durch­aus histo­ri­sche Vorläu­fer. In der Badisch Groß­her­zog­li­chen Uhrma­cher­schu­le Furt­wan­gen wurde bereits im 19. Jahr­hun­dert neben der Vermitt­lung von Ausbil­dungs­in­hal­ten („Berufs­kraft“) gleich­be­rech­tigt Wert auf die Entwick­lung einer „mora­li­schen Quali­fi­ka­ti­on“ gelegt. Darun­ter wurden einer­seits Allge­mein­wis­sen verstan­den, darüber hinaus aber auch die Aufklä­rung als mündi­ge Bürge­rIn­nen und die Schaf­fung von Verant­wor­tungs­be­wusst­sein für die eige­nen beruf­li­chen Tätig­kei­ten. Neben notwen­di­gem instru­men­tel­lem System­wis­sen wurde also auch refle­xi­ves, letzt­lich auch trans­for­ma­ti­ves Wissen vermit­telt. Da sich die HFU seit 2011 stark im Bereich Nach­hal­tig­keit enga­giert und gleich­zei­tig vor Ort mehre­re Zukunfts- und Stand­ort­in­itia­ti­ven (durch die Kommu­ne sowie einen Unter­neh­mer­ver­band) ins Leben geru­fen wurden, lag es nahe, sich mit inno­va­ti­ven Bildungs­pro­zes­sen zu beschäf­ti­gen und das RCE als „Leucht­turm­pro­jekt“ einzu­rich­ten. Gleich­zei­tig wurde damit an die BNE-Debat­te ange­knüpft: So appel­lier­te z. B. das Natio­nal­ko­mi­tee der UN-Dekade in der Bonner Erklä­rung (dem Abschluss­do­ku­ment der BNE-Dekade) an Akteu­rIn­nen, Netz­wer­ke, Insti­tu­tio­nen und Einrich­tun­gen, BNE noch stär­ker in die Gesell­schaft zu inte­grie­ren. Der Aufruf zum Handeln galt insbe­son­de­re Fach- und Lehr­kräf­ten sämt­li­cher Bildungs­in­sti­tu­tio­nen. Zugleich sollte zukünf­tig vermehrt auf Koope­ra­ti­on mit Kommu­nen, Unter­neh­men und der Zivil­ge­sell­schaft gesetzt werden.
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Vor diesem Hinter­grund wurde 2014 entschie­den, als Hoch­schu­le bei der United Nati­ons Univer­si­ty (UNU) in Tokyo die Einrich­tung eines RCEs zu bean­tra­gen. Mit der Initia­ti­ve zur Grün­dung soge­nann­ter „Regio­nal Centres of Exper­ti­se for Educa­ti­on on Sustainable Deve­lo­p­ment“ verfolgt die UNU das Ziel, bisher wenig koope­rie­ren­de Akteu­rIn­nen zu verknüp­fen. Ziel eines RCEs ist es, formel­le und infor­mel­le Bildungs­pro­jek­te anzu­bie­ten und Nach­hal­ti­ge Entwick­lung auf loka­ler und regio­na­ler Ebene voran­zu­trei­ben. Anfang 2015 wurde das RCE Südschwarz­wald als erstes und bislang einzi­ges Kompe­tenz­zen­trum im Bereich BNE in Baden-Würt­tem­berg zerti­fi­ziert. Als regio­na­le Koor­di­na­ti­ons- und Dialog­platt­form dient es der Unter­stüt­zung loka­ler und regio­na­ler Akteu­re. Mitglie­der sind z. B. die Kommu­ne Furt­wan­gen, Unter­neh­men sowie der lokale Unter­neh­mer­ver­band aber auch Verei­ne, Schu­len und verschie­de­ne Orga­ni­sa­tio­nen. Mit diesen Akteu­ren wird in verschie­de­nen Projek­ten die Idee einer neuen Wert­schöp­fungs­ket­te durch inte­grier­tes loka­les Wissen und konsul­ta­ti­ve Forschung verfolgt (www.rce-südschwarzwald.de).
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Öffent­li­che Wissenschaft
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Am RCE Südschwarz­wald wird dabei prak­tisch umge­setzt, was an ande­rer Stelle theo­re­tisch erdacht wurde: Öffent­li­che Wissen­schaft. Hier­bei geht es quer zu allen Projek­ten (ideal­ty­pisch) darum, Forschungs­zie­le gemein­sam mit außer­wis­sen­schaft­li­chen Akteu­ren zu defi­nie­ren und sich auf neue sozia­le Praxen der Ko-Produk­ti­on von Wissen einzu­las­sen, die bislang noch als weit­ge­hend „expe­ri­men­tell“ bezeich­net werden müssen. Ziel dieser hier und da auch „kolla­bo­ra­tiv“ genann­ten Arbeits­wei­se ist öffent­li­ches Wissen (oder auch sozial robus­tes Wissen). Unter öffent­li­chem Wissen wird Wissen verstan­den, das die Zukunft aller gesell­schaft­li­chen Akteu­re berück­sich­tigt und nicht allein die Inter­es­sen der Wirt­schaft bedient. Öffent­li­ches Wissen erzeugt einen öffent­li­chen Wert („public value“) und sperrt sich gegen eine Perspek­ti­ve rein ökono­mi­scher Nütz­lich­keit („impact“). Es wird dadurch als „zukunfts­si­che­rer“ einge­stuft, weil es eine breite Inter­es­sens­grund­la­ge und viel­fäl­ti­ge Inter­es­sen zivil­ge­sell­schaft­li­cher Akteu­re inte­griert. Auf diese Weise soll sich öffent­li­ches Wissen gegen die Verein­nah­mung in neoli­be­ra­len Vermar­kungs­pro­zes­sen des Wissenschafts‑, Poli­tik- und Wirt­schafts­sys­tems immunisieren.
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In einem Satz: Öffent­li­ches Wissen sichert die Demo­kra­tie­fes­tig­keit der Gesell­schaft und nicht die Produk­ti­vi­tät von Unter­neh­men. Menschen wollen ein zufrie­den­stel­len­des Leben führen, nicht ein opti­mier­tes und markt­kon­for­mes. Es geht also darum, markt­freie sozia­le Räume zu erhal­ten und auszubauen.
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Gesell­schaft als Labor
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Letzt­lich sind die zahl­rei­chen Heraus­for­de­run­gen, die mit Neben­fol­gen­ge­sell­schaf­ten verbun­den sind, auch eine Chance. Und zwar dann, wenn davon ausge­gan­gen wird, dass die grund­le­gen­den Inno­va­tio­nen des 21. Jahr­hun­derts sozia­le Inno­va­tio­nen und keine tech­ni­schen Inno­va­tio­nen sein werden, bei denen kultu­rel­le und kommu­ni­ka­ti­ve Praxen im Mittel­punkt stehen. Es geht viel­mehr um ein syste­mi­sches Inno­va­ti­ons­ver­ständ­nis, d. h. ein intel­li­gen­tes Zusam­men­spiel tech­no­lo­gi­scher und sozia­ler Inno­va­tio­nen. Möglich wird dies durch die Einbet­tung tech­no­lo­gi­scher Inno­va­tio­nen in (lokale) sozio­kul­tu­rel­le Kontexte.
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Das ist aller­dings leich­ter gesagt als getan. Bereits der Sozio­lo­ge Ulrich Beck beton­te 1990 die sich inten­si­vie­ren­den Wech­sel­wir­kun­gen und Abhän­gig­kei­ten zwischen Wissen­schaft und Öffent­lich­keit (vor Ort). Forschung werde immer abhän­gi­ger von poli­ti­schen Zustim­mun­gen und öffent­li­chen Fragen. Mehr noch: Forschung werde selbst zu Poli­tik. Wo sich aber öffent­li­che Dispu­te, Befürch­tun­gen, Stand­punk­te und Mitbe­stim­mun­gen (in einem Wort: Demo­kra­tie) einschleicht, verän­dern sich alther­ge­brach­te Wissensordnungen. … 

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