Völlig aus dem Takt geraten – Pat Christ

Wir sind fort­wäh­rend in Bewe­gung. Bemü­hen uns, unter den engen Zeit­hut zu quet­schen, was einfach nicht darun­ter­pas­sen will. War je eine Gene­ra­ti­on derma­ßen hektisch? Wohl kaum. Doch wie bei allen zeit­geis­ti­gen Phäno­me­nen lässt auch hier die Gegen­be­we­gung nicht lange auf sich warten. „Zeit­acht­sam­keit“ lautet das neue Stich­wort. Zahl­rei­che Initia­ti­ven fordern und gestal­ten eine neue „Zeit­kul­tur“. Manche Ansät­ze sind durch­aus beacht­lich. Unter dem Aspekt „Geld­sys­tem“ betrach­tet, grei­fen sie jedoch fast sämt­lich zu kurz.

So ganz neu ist die Sache frei­lich nicht. Vor mehr als 40 Jahren feier­te Micha­el Ende Erfol­ge mit seinem Roman „Momo“. Im Mittel­punkt steht ein Kind, das den Menschen die von den „Zeit-Dieben“ gestoh­le­ne Zeit zurück­bringt. Der Roman zeigt auf, wie sich Menschen mani­pu­lie­ren und dazu brin­gen lassen, Zeit zu „sparen“. Unre­flek­tiert verin­ner­li­chen sie, was ihnen sugge­riert wird: Wer jetzt Zeit spart, habe später mehr davon. Natür­lich wissen wir, dass die Rech­nung nicht aufgeht. Dass sich, wer dieser Devise zufol­ge lebt, gefähr­lich verkal­ku­liert. Denn wer sich jetzt die Zeit nicht nimmt, erhält sie nie mehr zurück. Ob es das Später gibt, ist schließ­lich mehr als frag­lich. Und welches Später ist über­haupt gemeint? Später, das ist immer das, was nie eintritt.

Nun steht es außer Frage, dass Menschen einen Teil ihrer Zeit dazu verwen­den müssen, um für ihre Exis­tenz­grund­la­ge zu sorgen. Doch wie viel Zeit müssen wir hier­für realis­tisch betrach­tet wirk­lich verwen­den? Und vor allem: Wann genau verwen­den wir die für den Lebens­un­ter­halt notwen­di­ge Zeit? Wann arbei­ten wir? Wer Glück hat, darf dann arbei­ten, wenn sein Körper und sein Geist dazu bereit sind. Viele haben dieses Glück nicht. Sie sind gezwun­gen, gegen ihre „innere Uhr“, wie Chro­no­bio­lo­gen sagen, tätig zu sein. Einer von ihnen ist Prof. Dr. Henrik Oster. An der Lübe­cker Univer­si­täts­kli­nik leitet er hierzu eine Arbeitsgruppe.

Die Chro­no­bio­lo­gie erforscht das Thema „Gesund­heit“ in Bezug auf die Zeit, erläu­tert Oster: „Unsere gene­tisch fest­ge­schrie­be­ne innere Uhr teilt bestimm­ten Tätig­kei­ten und physio­lo­gi­schen Prozes­sen güns­ti­ge Tages­zeit­ab­schnit­te zu.“ Die große Kunst, die jedem Menschen chro­no­bio­lo­gisch abver­langt wird, besteht darin, im Einklang mit der eige­nen „inne­ren“ Uhr zu leben. Genaue Anwei­sun­gen, wie das geht, gibt es nicht. Denn jeder Mensch gehört einem ande­ren „Chro­no­ty­pen“ an. Es gibt aller­dings Faust­re­geln, die grund­sätz­lich für jeden Menschen gelten, sagt Oster: „Es ist statis­tisch rela­tiv gut belegt, dass ein tägli­ches Schlaf­pen­sum von sechs bis acht Stun­den mit der längs­ten Lebens­er­war­tung korreliert.“
Zu wenig Schlaf
stei­gert Krebsgefahr
Gemeint ist der nächt­li­che Schlaf – denn darauf ist der Körper program­miert. Wer gegen die natür­li­chen Geset­ze lebt und nachts stän­dig zu wenig schläft, zum Beispiel, weil Nacht­schich­ten ange­sagt sind, hat ein hohes Risiko, zu erkran­ken: „An Adipo­si­tas, Typ-2-Diabe­tes, aber auch an Krebs.“

Wie abar­tig der Umgang mit „Zeit“ heute ist, zeigt die Tatsa­che, dass dieje­ni­gen, die unter ande­rem deshalb krank werden, weil sie nicht nach ihrer inne­ren Uhr leben dürfen, immer weni­ger Zeit und damit Chan­cen erhal­ten, wieder wirk­lich gesund zu werden. „In Kran­ken­häu­sern wird die Verweil­dau­er von Pati­en­ten möglichst kurz gehal­ten, ob das nun der ‚Heilungs­zeit’ zugu­te­kommt oder abträg­lich ist“, kriti­siert der emeri­tier­te Arbeits- und Sozi­al­recht­ler Profes­sor Dr. Ulrich Mücken­ber­ger aus Bremen.

Aber auch an Schu­len und Univer­si­tä­ten ist Hetze ange­sagt. Wie viel Zeit der einzel­ne indi­vi­du­ell seinem Entwick­lungs­stand zufol­ge braucht, spielt keine Rolle: „Lehr­zei­ten werden abge­kürzt, die ‚Lern­zei­ten’ blei­ben oft auf der Strecke.“

Mücken­ber­ger fordert ein „Recht auf eigene Zeit“. Zeit dürfe nicht weiter „ökono­mi­siert“ werden. Denn dort, wohin es die Zeit­öko­no­mi­sie­rung getrie­ben hat, seien alle mensch­li­chen Maßstä­be verlo­ren gegan­gen. Das Zeit­dik­tat unter­drückt Wünsche, Impul­se, Träume, Empa­thie, Gefüh­le, Liebe. Damit wird das Beste im Menschen klein gehal­ten. Oder gar vernichtet.
„Take back your time“
Allmäh­lich erwacht ein Bewusst­sein dafür, welche Trag­wei­te dies hat. So förder­te das Umwelt­bun­des­amt eine Unter­su­chung zum Thema „Zeit für Nach­hal­tig­keit – Zeiten der Trans­for­ma­ti­on“. Am 4. Dezem­ber erschien diese Unter­su­chung der Forsche­rin­nen Lucia Reisch und Sabine Bietz im oekom-Verlag. In dem Band wird eine Reihe von Initia­ti­ven aufge­führt, die das Thema „Zeit­acht­sam­keit“ direkt oder indi­rekt voran­trei­ben. Etwa den „Take back your time“-Day in den USA.

Bereits 1999 star­te­te von Itali­en aus die Bewe­gung „Slow Cities“. 176 Städte welt­weit gehö­ren dieser inter­na­tio­na­len Bewe­gung der „Lebens­wer­ten Städte“ unter 50.000 Einwoh­nern inzwi­schen an. Zehn befin­den sich in Deutsch­land: Bad Schus­sen­ried, Deides­heim, Hers­bruck, Lüding­hau­sen, Marihn, Nörd­lin­gen, Schwar­zen­bruch, Über­lin­gen, Wald­kirch und Wirs­berg. Noch älter als die „Lebens­wer­te Städte“-Initiative ist die Slow Food-Bewegung.

Ausgangs­punkt ist auch hier Itali­en: 1986 grün­de­te der Jour­na­list und Sozio­lo­ge Carlo Petri­ni den Verein zur Erhal­tung der Esskul­tur in der nord­ita­lie­ni­schen Klein­stadt Bra. Heute hat die Bewe­gung welt­weit rund 100.000 Mitglie­der. Jedes Jahr am 10. Dezem­ber bege­hen 1.300 lokale Slow Food Grup­pen zusam­men mit über 2.000 Lebens­mit­tel­bünd­nis­sen rund um den Globus den „Terra Madre“-Tag.
Wo Slow Food zu kurz denkt
Slow Food wehrt sich gegen die Fast­food- und Discoun­ter-Kultur. Die Anhän­ger wollen sich die Zeit nehmen, regio­na­le, saiso­na­le und gesun­de Produk­te bewusst einzu­kau­fen und zuzu­be­rei­ten. Sie wollen die regio­na­le Land­wirt­schaft fördern, heimi­sche Arten erhal­ten und Produ­zen­ten vor Ort – den loka­len Bäcker oder Metz­ger – unter­stüt­zen. In „Genuss­ge­mein­schaf­ten“ setzen sich Städ­ter für Bauern und damit für den Erhalt einer bäuer­lich-hand­werk­li­chen Lebens­mit­tel­viel­falt in den Regio­nen ein. Das geht so weit, dass Verbrau­cher ihr Geld land­wirt­schaft­li­chen Betrie­ben geben, die vor nicht bezahl­ba­ren Inves­ti­tio­nen stehen.

Hier nun kommt der für Human­wirt­schaft­le­rIn­nen span­nen­de und kriti­sche Punkt: In all den beschrie­be­nen Bewe­gun­gen, nicht zuletzt bei Slow Food, wird die Rolle des zeit­fres­se­ri­schen Geld­sys­tems für die Zeit­ver­knap­pung nicht gese­hen. Slow Food wirbt sogar mit einem für Geld­theo­re­ti­ker haar­sträu­ben­den Satz für die letzt­lich gute Sache, lokale Land­wir­te zu unter­stüt­zen: „Wenn Sie Inter­es­se daran haben, dass Ihr Geld sinn­voll in der Region arbei­tet und nicht irgend­wo weit weg Scha­den anrich­tet, dann schrei­ben Sie uns.“ Daraus spricht durch­aus finanz­ethi­sches Bewusst­sein. Aber völli­ge Blind­heit für die Mecha­nis­men der leis­tungs­lo­sen Geld­ver­meh­rung. Und für den gesell­schaft­li­chen Zwang zu einem expo­nen­ti­el­len Wachstum.

Auch ein ambi­tio­nier­tes Projekt wie „Chro­no­Ci­ty“ in Bad Kissin­gen zeigt zwar auf, wo es hapert – ohne auch nur im Mindes­ten aufschei­nen zu lassen, wo die Wurzeln des Problems liegen. Ins Leben geru­fen wurde die „Pilot­stadt Chro­no­bio­lo­gie“ von Wirt­schafts­för­de­rer Micha­el Wieden. Im Münch­ner Chro­no­bio­lo­gen Dr. Thomas Kanter­mann fand er einen Unter­stüt­zer. Beide mach­ten sich daran, Wege zu einer „ausge­schla­fe­nen Gesell­schaft“ zu gehen. Anlass für das umfang­rei­che Image­pro­jekt in der Kurstadt ist nicht zuletzt die Tatsa­che, dass die Kran­ken­kas­sen immer weni­ger klas­si­sche Kuren geneh­mi­gen und bezahlen.
Immer mehr Schichtarbeit
Ein Baustein des Projekts zielt auf Bad Kissin­gens Gastro­no­mie ab. Gast­stät­ten sollen dazu gebracht werden, ihre Öffnungs­zei­ten auszu­wei­ten. So würden auch Schicht­ar­bei­te­rIn­nen in den Genuss „frischer Snacks“ kommen. Auf den ersten Blick ein guter Gedan­ke. Die Schicht­ar­beit selbst aller­dings wird nicht proble­ma­ti­siert. Dass es nachts Pfle­ge­rin­nen und Pfle­ger in Senio­ren­hei­men oder Klini­ken braucht, steht ja außer Frage. Doch damit lässt sich die extre­me Ausdeh­nung der Schicht­ar­beit nicht erklären.

Zwischen den Jahren 2001 und 2011 ist die Zahl der Schicht­ar­bei­ten­den in Deutsch­land um fast 25 Prozent von 4,8 auf 6 Millio­nen Beschäf­tig­te hoch­ge­schnellt. Inzwi­schen arbei­ten 15 Prozent aller Arbeit­neh­mer in Schich­ten. Dane­ben nimmt auch die Wochen­end­ar­beit nimmt zu. Und keines­falls nur im sozia­len Sektor.

Dass eine Insti­tu­ti­on wie die Akade­mie der Wissen­schaf­ten in Hamburg daran geht, eine Vorle­sungs­rei­he zum Thema „Zeit­acht­sam­keit“ zu orga­ni­sie­ren, ist zwei­fel­los posi­tiv: Seit Okto­ber und noch bis Febru­ar beleuch­ten Zeit­for­scher verschie­de­ne Zeit­kon­flik­te. Sie weisen auf die Erkennt­nis­se der Chro­no­me­di­zin hin, gehen dem subjek­ti­ven Empfin­den nach, „nie“ Zeit zu haben und beleuch­ten die Rolle der Zeit im Trans­for­ma­ti­ons­pro­zess. Beson­ders poin­tiert versprach der Vortrag des Jenaer Sozio­lo­gen Profes­sor Hart­mut Rosa zu werden: Der ostdeut­sche Zeit­dia­gnos­ti­ker fordert radi­ka­le ökono­mi­sche, poli­ti­sche und kultu­rel­le Trans­for­ma­tio­nen. Sonst, sagt er, wird die irrsin­ni­ge Beschleu­ni­gung noch weiter zuneh­men. Wie Recht er doch hat. 

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