TTIP und Demokratie – Bekennt Euch zum Subsidiaritätsprinzip – Sven Giegold

In Europa gibt es keine poli­ti­sche Diskus­si­on ohne das Subsi­dia­ri­täts­prin­zip. Im Euro­pa­wahl­kampf beschwör­ten Poli­ti­ker unter­schied­lichs­ter Couleur unge­wöhn­lich einstim­mig die Idee, dass Aufga­ben in der EU wo immer möglich dezen­tral, also auf regio­na­ler oder natio­na­ler Ebene, gere­gelt werden sollen. Aktu­ell schei­nen einige ihr Bekennt­nis zur Subsi­dia­ri­tät schon wieder verges­sen zu haben: Bei den Diskus­sio­nen zu TTIP und ande­ren Frei­han­dels­ver­trä­gen ist von dem sonst unver­meid­li­chen Wort­mons­ter nichts zu hören. Auch Subsi­dia­ri­täts­fans, die bei Staub­saugern, Glüh­bir­nen und Dusch­köp­fen hyper­ven­ti­lie­ren, sind selt­sam schweig­sam. Das macht stut­zig, denn die Recht­fer­ti­gung für TTIP & Co. berührt ganz zentral das ehrwür­di­ge Prin­zip aus der katho­li­schen Sozi­al­leh­re, das in der EU sogar Verfas­sungs­rang hat.

Übli­cher­wei­se argu­men­tie­ren die TTIP-Anhän­ger so: Unter­schied­li­che Stan­dards für Güter und Dienst­leis­tun­gen sind ein enor­mes Handels­hemm­nis. Sie kosten Effi­zi­enz und Wachs­tum. Im Rahmen von TTIP sollen möglichst viele dieser Stan­dards zwischen der EU und den USA entwe­der auf glei­ches Niveau gebracht oder gegen­sei­tig aner­kannt werden. Dabei gehen selbst die opti­mis­tischs­ten Studi­en nur von gerin­gen posi­ti­ven Effek­ten dieser Maßnah­men aus. Seit die Kritik an TTIP unüber­hör­bar gewor­den ist, geste­hen seine Verfech­ter in Christ- und Sozi­al­de­mo­kra­tie immer­hin ein, dass die euro­päi­schen Verbraucher‑, Umwelt- und Sozi­al­stan­dards nicht abge­senkt werden sollen. Da die Stan­dards auf beiden Seiten des Atlan­tiks aber sehr unter­schied­lich sind, ist damit ein Abkom­men auf ganzer Breite eher unwahr­schein­lich geworden.

Auch wenn Stan­dards nicht abge­senkt, sondern harmo­ni­siert oder gegen­sei­tig aner­kennt werden sollen, muss das Vorha­ben in Europa einem Test stand­hal­ten: Dem Subsi­dia­ri­täts­check. Nur wenn ein öffent­li­ches Gut durch Rege­lung auf höhe­rer Ebene (inter­na­tio­nal) besser zu errei­chen ist als auf dezen­tra­le­rer Ebene (regional/national/europäisch), kommt die Zentra­li­sie­rung der Rege­lung in Betracht. Zur Recht­fer­ti­gung der Zentra­li­sie­rung reicht die trivia­le Begrün­dung nicht aus, dass glei­che Regeln für alle einfa­cher und billi­ger wären. Denn Zentra­li­sie­rung hat Neben­wir­kun­gen: Werden immer mehr Stan­dards inter­na­tio­nal ange­passt, verlie­ren die betei­lig­ten Staa­ten bzw. die EU noch mehr von ihrer demo­kra­ti­schen Gestal­tungs­macht. Selbst wenn die Stan­dards nicht ange­gli­chen, sondern nur gegen­sei­tig aner­kannt werden, kommt es zum glei­chen Effekt: Höhere Stan­dards sind oft kosten­in­ten­siv und führen für die eigene Wirt­schaft zum Wett­be­werbs­nach­teil, denn sie ist durch den Frei­han­del schutz­los gegen­über der Konkur­renz, die unter nied­ri­gen Stan­dards produ­ziert. Damit wird das nied­ri­ge­re Niveau unter den gegen­sei­tig aner­kann­ten Stan­dards faktisch zu einem Maxi­mal­ni­veau nach dem sich alle Markt­teil­neh­mer rich­ten müssen, um ihr Über­le­ben zu sichern.

Die Konse­quenz von einer Anglei­chung oder gegen­sei­ti­gen Aner­ken­nung von Stan­dards in vielen Sekto­ren wäre die Aushöh­lung der euro­päi­schen wie auch der ameri­ka­ni­schen Demo­kra­tie. TTIP & Co. würde es deut­lich erschwe­ren, Fort­schrit­te für Verbrau­cher, Tier­schutz, Gesund­heits­schutz, Ressour­cen­ef­fi­zi­enz, usw. durch­zu­set­zen. Unter­schied­li­che Regeln sind nicht nur ein Kosten­fak­tor, sondern ein Wert im ideel­len Sinne, wenn sie demo­kra­tisch abge­stimmt sind. Stan­dards sind im Gegen­satz zu rein tech­ni­schen Normen demo­kra­tie­pflich­tig, weil mit ihnen gesell­schaft­li­che Wert­ent­schei­dun­gen verbun­den sind: Tier­schutz versus billi­ges Fleisch, Billig-Elek­tro­nik versus Sicher­heit und Ressour­cen­ef­fi­zi­enz, Finanz­markt­sta­bi­li­tät versus wirt­schaft­li­che Frei­heit für Finanz­markt­ak­teu­re, Produkt­in­no­va­ti­on durch neue Chemi­ka­li­en versus vorbeu­gen­der Gesund­heits­schutz, usw. Solche Entschei­dun­gen bewe­gen die Bürger. Solche Fragen poli­ti­sie­ren die Menschen. Unsere Demo­kra­tie verliert ihr Herz, wenn solche Entschei­dun­gen nicht mehr ernst­haft disku­tiert und abge­stimmt werden, weil die Erhö­hung oder Senkung von Stan­dards von schwie­ri­gen Neuver­hand­lun­gen mit den Handels­part­nern abhän­gig sind oder schwe­re Wett­be­werbs­nach­tei­le folgen. Hier zeigt sich der Wert des Subsi­dia­ri­täts­prin­zips. Viel­leicht kosten unter­schied­li­che Stan­dards ein klein wenig Wachs­tum. Aber wir gewin­nen etwas viel Wert­vol­le­res: Eine leben­di­ge Demo­kra­tie, die sich zwischen wirk­li­chen Alter­na­ti­ven entschei­det und gesell­schaft­li­che Inno­va­tio­nen auf den Weg bringt, so dass Länder von ihren Unter­schie­den lernen können. Die Befür­wor­ter von TTIP & Co. müssen sich daher zum Subsi­dia­ri­täts­prin­zip beken­nen. Es muss in alle Verhand­lungs­man­da­te aufge­nom­men werden. Als Bekennt­nis zu unse­rer Demokratie. 

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