Über Michael Ende – Leonie Sontheimer

Vor vier­zig Jahren schrieb Micha­el Ende die Geschich­te „MOMO“, welche hinter dem Schlei­er eines Märchens die krisen­haf­te Situa­ti­on unse­rer heuti­gen Wachs­tums­ge­sell­schaft thema­ti­siert. Die HUMANE WIRTSCHAFT berich­tet an dieser Stelle regel­mä­ßig über ein Film­pro­jekt, das sich den Hinter­grün­den von Momo widmet, einen ökono­mi­schen und sozia­len Wandel erprobt und darin von Micha­el Endes Schrif­ten und Gedan­ken beglei­tet ist.

Es mag Schrift­stel­ler geben, die schrei­ben, um der Welt zu entflie­hen. Andere lassen sich von der Verhei­ßung von Reich­tum und Ruhm leiten. Nicht so der Verfas­ser von Momo, der Unend­li­chen Geschich­te und Jim Knopf: Viele der fanta­sie­vol­len Geschich­ten und Figu­ren Micha­el Endes, darun­ter auch solche, die die aller­jüngs­te Leser­schaft anspre­chen, haben einen Bezug zu gesell­schaft­li­chen Fragen, oft auch histo­ri­schen Zusam­men­hän­gen, die auch in entspre­chen­der Fach­li­te­ra­tur wieder­zu­fin­den wären. Die Form der Erzäh­lung jedoch ermög­licht dem Leser ein emotio­na­les Erle­ben und tiefe­res Verständ­nis mensch­lich verur­sach­ter Krisen.

Für Floria­na, Hanni, Masayo, Oliver und Pius, die an einem Doku­men­tar­film über die Hinter­grün­de von Momo arbei­ten, ist Micha­el Ende ein wich­ti­ger Vorden­ker, beson­ders durch seine Fähig­keit, wirt­schaft­li­che und wissen­schaft­li­che Themen auf poeti­scher Ebene zu vermit­teln. Die Geschich­te über Momo und die Grauen Herren stellt den roten Faden für den Film dar, in ihr flie­ßen viele der Gedan­ken zusam­men, welche das Film­team an die Menschen heran­tra­gen möchte.

„Micha­el Endes Erzähl­wei­se ergreift das Herz, die Theo­rie geht in den Kopf. So wird Ende von jedem verstan­den, egal wie alt oder wie klug er ist“, sagt Masayo, für die Endes Bücher ein Teil ihrer Kind­heit waren. Auch Oliver hat als Kind Jim Knopf, Momo und die Unend­li­che Geschich­te gele­sen. Aber die Bedeu­tung, die Ende jetzt für ihn hat, ist erst vor vier Jahren entstan­den, als er gemerkt hat, dass in vielen seiner Geschich­ten sozia­le und höchst poli­ti­sche Themen versteckt sind.

Momo beinhal­tet ein verwo­be­nes Gefüge brisan­ter Themen. Je nach­dem, wie man es dreht und wendet, drin­gen unter­schied­li­che Aspek­te in den Vorder­grund, die alle tief mitein­an­der verbun­den sind: die Misere des heuti­gen Geldsystems,
die zerstö­re­ri­schen Sympto­me des Wachs­tums­zwangs oder die verküm­mern­de Fähig­keit zuzu­hö­ren. Auch die zuneh­men­de Umwelt­ver­schmut­zung und Ausbeu­tung der Natur, die wir heute beob­ach­ten können, hat Ende bereits verar­bei­tet. In einer Video­bot­schaft für ein umwelt­po­li­ti­sches Sympo­si­um in Japan 1993 sagte er, der dritte Welt­krieg hätte längst begon­nen: „Wir führen einen Vernich­tungs­krieg gegen unsere eige­nen Kinder, Enkel und Uren­kel. Deren Welt zerstö­ren wir jetzt.“

Micha­el Ende, der 1929 in Garmisch-Parten­kir­chen zur Welt kam, hat das Ende des zwei­ten Welt­krie­ges bewusst miter­lebt. Als Jugend­li­cher wurde er Zeuge von Bomben­an­grif­fen auf Hamburg und München, und schrieb seine ersten Gedich­te. Während sich die Wogen des Krie­ges lang­sam glät­te­ten, besuch­te Micha­el Ende erst eine Waldorf­schu­le und später die Otto Falcken­berg Schau­spiel­schu­le und befass­te sich mit anthro­po­so­phi­schen, magi­schen und ande­ren Welt­bil­dern. Später, als erwach­se­ner Schrift­stel­ler und öffent­lich wahr­ge­nom­me­ne Person, beschäf­tig­ten Ende die Gren­zen, die wir unse­rem gesell­schaft­li­chen Denken setzen.

Wie eine große schwar­ze Mauer beschreibt er diese Gren­zen in einem Gespräch mit dem SPD-Poli­ti­ker Erhard Eppler und der Schau­spie­le­rin Hanne Tächl im Jahr 1982. Eine Mauer, vor der vor allem die junge Gene­ra­ti­on stünde und sich so eigen­tüm­lich hoff­nungs­los fühle. Doch Micha­el Ende fürch­te­te sich nicht vor der Frage „Was wollen wir eigent­lich?“. Er stellt sie uns in allen seinen Geschich­ten und zeigt, wie wir die Mauern einrei­ßen können. Endes Gabe, Gret­chen­fra­gen zu stel­len, machte ihn zu einem gefrag­ten Gesprächs­part­ner und so hatte Ende zahl­rei­che Auftrit­te, bei denen es nicht primär um seine Lite­ra­tur ging, sondern um wich­ti­ge Fragen der Kultur, Kunst und Gesell­schaft. Nicht immer war die Reso­nanz posi­tiv. So wurde er etwa auf eine Tagung zum Thema „Die Ratio­na­li­sie­rungs­fal­le“ in die Schweiz einge­la­den, schließ­lich jedoch von den anwe­sen­den Top-Mana­gern aggres­siv beschimpft. Er hatte dazu ange­regt „posi­ti­ve Utopien“ zu entwi­ckeln statt nur noch in Sach­zwän­gen zu denken. Ende erschien es notwen­dig für das Über­le­ben der Menschen, ein posi­ti­ves Bild von der Welt zu entwer­fen, in der man leben möchte. Frei von jedem „Das geht nicht!“. Dann könne man sich daran setzen, dieses Wunsch­bild zu verwirk­li­chen. Er wollte mit den Mana­gern über Möglich­kei­ten spre­chen, wie in Zukunft eine Indus­trie ausse­hen könnte, die auf andere Grund­la­gen gestellt wäre als auf Konkur­renz und Wachs­tums­zwang. Ende ging dabei nicht davon aus, dass es die Einsichts­lo­sig­keit oder der rück­sichts­lo­se Egois­mus der Wirt­schafts­leu­te sei, was die Sache so kompli­ziert mache. Es sei das System selbst, welches er als „wild­ge­wor­de­nes Karus­sell“ bezeich­net, das schein­bar niemand mehr anhal­ten kann.
In Momo findet sich das von Ende kriti­sier­te System wieder. In einem Brief an den deut­schen Ökonom Werner Onken bestä­tigt er, dass im Hinter­grund von Momo die „Idee des altern­den Geldes“ steht und äußert seine Ansicht, dass „unsere Kultur­fra­ge nicht gelöst werden kann, ohne dass zugleich, oder sogar vorher, die Geld­fra­ge gelöst wird“.
In Japan ist Ende
als Philo­soph bekannt 

Micha­el Endes Werke wurden in mehr als 40 Spra­chen über­setzt und welt­weit gele­sen. Eine ganz beson­de­re Verbin­dung baute Ende nach Japan auf, woher seine zweite Frau stammt und wo er noch heute von Jour­na­lis­ten und Poli­ti­kern zitiert wird. „Endes Bücher wurden in Japan von einem Verlag veröf­fent­licht, der vorwie­gend Erwach­se­nen­li­te­ra­tur heraus­gibt,“ erzählt Hanni. In ihrer Recher­che für den Lang­film erfah­ren die Doku­men­tar­fil­mer stets mehr über enge Bande zwischen Ende, seinen Ideen und Japan. „Während die euro­päi­sche Vermark­tungs­stra­te­gie den Märchen­on­kel erfand, wird Ende in Japan bis heute als Denker und Philo­soph wahr­ge­nom­men.“ Diese ernst­haf­te Wahr­neh­mung aus dem Blick­win­kel der fernen Kultur war es viel­leicht, die Micha­el Ende veran­lass­te, über einen „Club of Tokyo“ nach­zu­den­ken, der sich analog zum Club of Rome mit nach­hal­ti­gen Währungs­kon­struk­ti­ons­fra­gen ausein­an­der­set­zen sollte.

Das Inter­es­se der japa­ni­schen Öffent­lich­keit ging soweit, dass der staat­li­che Sender NHK aufgrund des Buches Momo und Endes Beschäf­ti­gung mit dem Thema „Zeit“ eine Sendung über Einsteins Rela­ti­vi­täts­theo­rie produ­zier­te, durch die Micha­el Ende führte. Inspi­riert durch die inten­si­ven Gesprä­che während dieser Dreh­ar­bei­ten plante der Regis­seur Atsun­ori Kawa­mu­ra einen Doku­men­tar­film über Geld­sys­te­me, der durch den uner­war­te­ten Tod Micha­el Endes 1995 erst vier Jahre später auf Basis von Audio­auf­zeich­nun­gen verwirk­licht werden konnte.

Floria­na kann nach­voll­zie­hen, dass Endes Geschich­ten die Leser beein­dru­cken: „Endes Texte erzeu­gen einen Sog, der einen mitreißt und alles vorstell­bar macht.“ Diesen Sog möch­ten Floria­na und die ande­ren mit ihren Bildern und Geschich­ten auch erzeu­gen und so ihre Kritik des Geld­sys­tems direkt an die Herzen adres­sie­ren. „Auch den ganz­heit­li­chen Blick auf die Dinge können wir uns bei Micha­el Ende abgu­cken,” erklärt Hanni. „Dieser Blick ermög­licht uns, Zusam­men­hän­ge zu erfas­sen.“ Micha­el Endes umfas­sen­des Verständ­nis für die kompli­zier­ten Wech­sel­be­zie­hun­gen zwischen dem Geld, der Zeit, unse­rem sozia­len Mitein­an­der und den krank­haf­ten Sympto­men des Wirt­schafts­wachs­tums ist außer­ge­wöhn­lich. In dem entste­hen­den Doku­men­tar­film soll dieses Verständ­nis mit weite­ren Bildern gefüt­tert und von unter­schied­li­chen Stim­men gestärkt werden. 

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