„In mir schrie ‘s: ‚Ich will hier raus!’“ – Pat Christ

„In mir schrie ’s: ‚Ich will hier raus!’“
Warum Arbeits­sucht mehr ist als nur ein indi­vi­du­el­les Problem einer Randgruppe
Pat Christ

Zu arbei­ten, das war Marcels Leben. Er arbei­te­te bis spät in die Nacht. Er nahm Arbeit mit in den Urlaub. „Priva­te Einla­dun­gen schlug ich immer häufi­ger aus“, sagt der 57-Jähri­ge, der in der EDV-Orga­ni­sa­ti­on des Groß­ein­kaufs eines klei­nen Betriebs tätig war. Seit langem arbei­tet Marcel nicht mehr. Die Diagno­se „Chro­ni­sche Erschöp­fung“ beför­der­te ihn in die Früh­ren­te. Doch Marcel, der eigent­lich einen ande­ren Vorna­men hat, ist nicht nur chro­nisch erschöpft: „Ich bin arbeitssüchtig.“ 

An seinem Arbeits­platz zu wirken, am Rech­ner zu operie­ren, das war Marcels Lebens­in­halt. Warum? Was trieb ihn dazu, nur noch im Büro zu sitzen? Seit seinem Zusam­men­bruch beschäf­tigt sich Marcel, der seit Jahren in der deutsch­land­wei­ten Bewe­gung der „Anony­men Arbeits­süch­ti­gen“ (AAS) enga­giert ist, mit dieser Frage.

Die lässt sich nicht schnell abtun. Es gibt, sagt Marcel, stets ein ganzes Antwort- respek­ti­ve Problem­bün­del, das unheil­voll zusam­men­wirkt. Er sei in frühen Jahren trau­ma­ti­siert worden: „Mein Arbei­ten war vor diesem Hinter­grund ein Weglau­fen vor seeli­schem Schmerz.“ Aber natür­lich habe auch die gesamt­ge­sell­schaft­li­che Situa­ti­on einen Einfluss gehabt.
Je besser Menschen funk­tio­nie­ren, umso mehr Aner­ken­nung erhal­ten sie. Nun hatte Marcels Funk­tio­nie­ren einen Grad erreicht, der nicht nur abseits jedes Huma­nen, sondern auch abseits jeder Norma­li­tät war. Würden Menschen so exzes­siv essen oder Alko­hol trin­ken, wie er gear­bei­tet hatte, hätte schon längst jemand etwas gesagt.

Die Kolle­gen waren dankbar
Im besten Falle wäre früh Hilfe einge­lei­tet worden. Worum sich immer mehr Betrie­be in Bezug auf Alko­hol mit betrieb­li­chen Sucht­prä­ven­ti­ons­pro­gram­men bemü­hen. Aber Marcels Kolle­gen? „Die waren natür­lich dank­bar!“ Okay, ein biss­chen unge­wöhn­lich fanden sie das schon, dass sich da einer die Nächte im Büro um die Ohren schlug. „Der hat halt nichts ande­res“, hieß es. Keine Frau. Keine Freun­de. Keine Hobbys und priva­te Vergnügen.

Der Zusam­men­bruch kam erwar­tungs­ge­mäß. Wobei er sich lange, bevor wirk­lich alles aus war, ange­kün­digt hatte. Eines Nachts im Büro, sagt Marcel, habe er ein erschre­cken­des Erleb­nis gehabt: „Es war gegen Mitter­nacht. Ich hatte den Mantel ange­zo­gen. Wollte gehen.“ Was dann geschah, daran hat er keiner­lei Erin­ne­rung mehr: „Das nächs­te, was ich wieder weiß, ist, dass ich mit dem Mantel vor dem Compu­ter saß. Es war 2 Uhr nachts.“
Eindeu­ti­ger Fall von Film­riss, der eini­ger­ma­ßen früh­zei­tig hätte erken­nen lassen, dass Marcel auf einen völli­gen Abweg gera­ten war. Doch Marcel erschrak nur. Und machte weiter. Dann kam der Abend, der zur Kehrt­wen­de führte: „Ich saß daheim in meinem Sessel. Plötz­lich fühlte ich mich selbst wie ein dicker Turm an. Und in mir schrie etwas wie wahn­sin­nig: ‚Ich will hier raus!‘“ Das sei eine unglaub­lich inten­si­ve Wahr­neh­mung gewe­sen. Er habe sich selbst schier nicht mehr ausge­hal­ten. Am nächs­ten Tag kündig­te Marcel. Dann ging er in eine psycho­so­ma­ti­sche Klinik.

Treu dem Ruf der Pflicht
Seine Aufga­ben pflicht­ge­mäß zu erfül­len, das ist auch Günther in Fleisch und Blut über­ge­gan­gen. Günther ist ein Jahr jünger als Marcel. Er hat im echten Leben eben­falls einen ande­ren Vorna­men. Er gehört wie Marcel den Anony­men Arbeits­süch­ti­gen an. Aller­dings ist er erst seit kurzem dabei: „Ich stieß zu Beginn des Jahres 2014 zu der Gruppe.“ Das habe ihn sehr viel Über­win­dung gekos­tet, sagt Günther. Auch ihm ging und geht es im Leben nicht wirk­lich gut. Auch Günther hat Proble­me – jenseits bezie­hungs­wei­se korre­lie­rend mit seinem Arbeits­zwang. Dass er nun auch noch offen­sicht­lich ein echtes Sucht­pro­blem hat, diese Erkennt­nis habe ihn geflasht, sagt er.

Arbeit ist für Marcel wie für Günther ein siche­rer Hafen. Wer viel leis­ten kann, erfüllt die Grund­vor­aus­set­zung einer Gesell­schaft, die aus Grün­den, die, wie Human­wirt­schaft­le­rIn­nen bekannt ist, im Geld­sys­tem liegen, gezwun­gen ist, immer mehr und mehr zu leis­ten. Immer mehr und mehr zu schaffen. 

Flexi­bi­li­tät, Schnel­lig­keit und Belast­bar­keit – das sind hohe Tugen­den. Doch es geht nicht immer schnel­ler. Das funk­tio­niert im Großen ebenso wenig wie im Klei­nen. Auch Günther musste das erfah­ren. Auch er hat etwas Grau­en­vol­les erlebt: „Ich wachte eines morgens auf, und alle Aufga­ben, die ich glaub­te, an diesem und den nächs­ten Tagen erfül­len zu müssen, brachen wie ein Tsuna­mi über mich ein.“ Er habe geglaubt, „abzu­sau­fen“, sagt er.
Ohne Leis­tung nichts wert sein
Aus mancher Äuße­rung von Günther wird deut­lich, dass er an etwas Fata­les glaubt – an etwas, das, so fatal es auch ist, als ein bedeu­ten­der Motor hinter dem Leis­tungs­wahn unse­rer Gesell­schaft entlarvt werden kann. Im tiefs­ten Inne­ren glaub­te Günther, dass er nur dann einen Wert und nur dann eine Exis­tenz­be­rech­ti­gung hat, wenn er viel leistet.

Dieser Glaube, dass sie etwas tun müssen, um leben zu dürfen, stecke in vielen Arbeits­süch­ti­gen, sagt Marcel, der sich seit 1997 bei den Anony­men Arbeits­süch­ti­gen enga­giert und etli­che Geschich­ten von Betrof­fe­nen kennt. Je gerin­ger das Selbst­wert­ge­fühl sei, umso mehr müsse geleis­tet werden. Und niemals, gibt Günther zu, komme der Punkt, an dem man sagt: „Jetzt ist es wirk­lich genug.“

Von Voltaire ist der Ausspruch über­lie­fert, dass der Mensch zur Arbeit geschaf­fen sei. Der fran­zö­si­sche Philo­soph, dessen 1759 anonym erschie­ne­ne, sati­ri­sche Novel­le „Candi­de oder der Opti­mis­mus“ bis heute berühmt ist, soll ein Arbeits­tier gewe­sen sein. Angeb­lich diktier­te er täglich zwischen 18 bis 20 Stun­den. Das begeis­tert den Krefel­der Neuro­lo­gen Burk­hard Voß. In seinem Buch „Der Ruhe­stand, das süße Gift“ bemerkt er mit Blick auf Voltaire: „Worte wie Arbeits­sucht oder Burn-out verun­rei­nig­ten noch nicht die Land­schaft der Rheto­rik und des Geis­tes.“ Ein solche Aussa­ge, die auch noch von einem Arzt stammt, ist ein Schlag ins Gesicht von Menschen wie Günther und Marcel.

Anonym heißt anonym
„Anony­me“ äußern sich nicht zu „Streit­fra­gen unse­rer Zeit“. So heißt es in der Präam­bel der Anony­men Alko­ho­li­ker. Glei­ches gilt für die Overea­ters Anony­mous, die Anony­men Arbeits­süch­ti­gen, die Anony­men Messies, die Border­li­ners Anony­mous oder die Emoti­ons Anony­mous. Die Gruppe als solche bezieht keine Posi­ti­on. Und schon gar nicht die einzel­nen Mitglie­der. Dann müss­ten sie ja ihre Anony­mi­tät aufge­ben. Doch wer privat mit Marcel spricht, der erfährt durch­aus seine Meinung. Und die ist eindeu­tig: Die perma­nen­ten Leis­tungs- und Wachs­tums­ap­pel­le beför­dern nach seiner Ansicht in Indi­vi­du­en, die dafür anfäl­lig sind, Phäno­me­ne wie Arbeitssucht.
Arbeits­sucht ist keine Erfin­dung der Moder­ne. Aber die Moder­ne hat viel damit zu tun, dass Arbeits­sucht als Phäno­men derart um sich greift. Es verwun­dert auch kaum, dass die ersten Behand­lungs­zen­tren für Arbeits­süch­ti­ge in dem für seinen fana­ti­schen Arbeits­ei­fer bekann­ten Land Japan einge­rich­tet wurden. Das war bereits im Jahr 1992. Die Initia­ti­ve zur Etablie­rung von insge­samt knapp 350 Behand­lungs­zen­tren ging damals vom Arbeits­mi­nis­te­ri­um aus. Vier Jahre später veran­stal­te­te der Berufs­ver­band deut­scher Psycho­lo­gin­nen und Psycho­lo­gen einen ersten Kongress zu diesem Thema. „Karriere(n) in der Krise“, laute­te die Überschrift.

Natür­lich stimmt es auch, dass Medi­zin­in­dus­tri­el­le Krank­hei­ten erfin­den. Es stimmt, dass werbe­psy­cho­lo­gisch alles daran gesetzt wird, den Menschen Geld aus der Tasche zu ziehen. Und das gelingt auch. Die gesetz­li­che Kran­ken­ver­si­che­rung gab im Jahr 2013 rund 194 Milli­ar­den Euro aus. Hinzu kommen um die 28 Milli­ar­den Euro von der priva­ten Kran­ken­ver­si­che­rung. Die Bürge­rin­nen und Bürger selbst, die den „Zwei­ten Gesund­heits­markt“ bedie­nen, verhal­fen diesem Sektor zu einem Umsatz von nahezu 60 Milli­ar­den Euro.

Keine Mode­dia­gno­se
Ja, es ist Mode, Menschen damit zu beun­ru­hi­gen, dass bei ihnen irgend­et­was nicht stimmt. Sie zu animie­ren, irgend­wel­che teuren Thera­pien einzu­lei­ten. Irgend­wel­che teuren Diäten auszu­pro­bie­ren. Aller­dings wäre es sinn­los, die Krank­heit „Arbeits­sucht“ zu erfin­den. Denn, und das ist der Unter­schied zum Burn-out, daran lässt sich kaum etwas verdienen.

Wer sich als arbeits­süch­tig erkannt hat, ist gehal­ten, eine Entwick­lung einzu­lei­ten, die prin­zi­pi­ell zum „Weni­ger“ hingeht: Weni­ger Erwerbs­ar­beit, weni­ger Frei­zeit­stress, weni­ger Aktio­nis­mus durch Ärzte- oder „Thera­pie-Hopping“. Die seeli­schen Schä­den, die Arbeits­sucht durch die perma­nen­te Unter­drü­ckung der eige­nen Wünsche und Bedürf­nis­se anrich­te­te, lassen sich nur durch Ruhe lindern. Durch einen ruhi­gen Wald­spa­zier­gang. Ohne teure Walking­stö­cke. Durch ruhige Lektü­re. Wobei das Buch ruhig aus der Büche­rei entlie­hen sein darf. Durch ruhige Gesprä­che. Die nicht ausschließ­lich mit teuren Thera­peu­ten geführt werden müssen.

Damit spie­gelt die notwen­di­ge Entwick­lung im Indi­vi­du­el­len die kollek­ti­ve Entwick­lung, die notwen­dig wäre, um die Gesell­schaft vor dem Sturz in den Abgrund zu bewah­ren. Eine Gesell­schaft, die human wirt­schaf­tet, die soli­da­risch tätig ist und eine „Ökono­mie des guten Lebens“ pflegt, wird das Phäno­men „Sucht“ ganz sicher nicht völlig bannen können. Doch sie würde ihm sehr viel Boden entzie­hen. Denn dann wäre viel Zeit, sich um Kinder zu kümmern. Und sie so groß­wer­den zu lassen, dass sie Urver­trau­en und Selbst­wert­ge­fühl besit­zen. Versa­gen käme auch in dieser Gesell­schaft vor. Doch wären die indi­vi­du­el­len Konse­quen­zen nicht derart drastisch.

Angeb­lich ist jeder siebte Deut­sche gefähr­det, eine Arbeits­sucht zu entwi­ckeln. So die Schät­zung des Bonner Arbeits­psy­cho­lo­gen Stefan Poppel­reu­ter. Rund 400.000 Menschen seien akut arbeits­süch­tig. Mag sein. Doch die Zahl ist unwich­tig. Jeder einzel­ne Fall ist drama­tisch. Das zeigt die Leidens­ge­schich­te von Marcel, der jahre­lang brauch­te, um seine Arbeits­sucht zumin­dest halb­wegs zu bewäl­ti­gen. Und die Geschich­te von Günther, der noch mitten in diesem schwie­ri­gen Prozess steckt. Zwar arbei­tet Günther inzwi­schen ein biss­chen weni­ger: „Doch kürz­lich entlarv­te ich mich dabei, dass ich meine Frei­zeit schon wieder voll­zu­stop­fen beginne.“ 

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