Zeitmanagement als Form der Selbstausbeutung – Michael Freuding

Die Kehr­sei­te der Medaille
Zeit­ma­nage­ment als Form der Selbstausbeutung
Micha­el Freuding

1. Einlei­tung –
Die „Große Erzählung“
Wenn heut­zu­ta­ge von „Zeit­ma­nage­ment“ die Rede ist, löst das eine Fülle von Bildern aus: Man denkt an junge, schöne Menschen, an Apple-Produk­te, Nadel­strei­fen­an­zü­ge, graphi­sche Darstel­lun­gen von Börsen­kur­sen und andere Symbo­le des beruf­li­chen Erfol­ges. Wer wollte nicht Mana­ger sein, sich selbst opti­mie­ren, vorwärts kommen, eigene Ziele errei­chen? All das klingt verhei­ßungs­voll und weckt Erwar­tun­gen, die in der Gegen­wart durch­weg posi­tiv besetzt sind. Die „Große Erzäh­lung“, nach der wir unser Leben rich­ten, drängt uns zum Glau­ben an die Allmacht der Märkte und vermit­telt uns das Selbst­bild einer Produk­ti­ons­ein­heit mit eige­nem Waren­wert. So gese­hen sollen Tech­ni­ken des Zeit­ma­nage­ments die wirt­schaft­li­che Produk­ti­vi­tät des Menschen erhö­hen. „Wenn dieses Ziel erreicht ist, wird der Einzel­ne in einer Gesell­schaft des freien Wett­be­werbs durch höhere Einkom­men für seine Dienst­leis­tun­gen belohnt, als er sie sonst erzielt hätte.“

Wer solchen Ökono­mi­sie­rungs­ten­den­zen des mensch­li­chen Lebens kritisch gegen­über­steht, findet heute kaum noch Fürspre­cher. Viel­mehr gilt Selbst­aus­beu­tung als schick und findet im Alltag reichen Zuspruch. Was früher Zwang und Gewalt­an­wen­dung erfor­der­te, erle­digt sich nunmehr von allei­ne: Arbei­ter, Ange­stell­te und Beamte fügen sich den Wünschen einer imagi­nä­ren Markt­macht, weil sie die Opti­mie­rung ihrer Produk­ti­vi­tät als selbst gesetz­te Aufga­be wahr­neh­men. Damit sie in der Erfolgs­kul­tur bestehen können, besu­chen sie auf eigene Kosten Zeit­ma­nage­ment­se­mi­na­re, lesen Bücher mit „Chaka“-Effekt und hinter­fra­gen stünd­lich ihren Waren­wert. In diesem Klima der Dauer­eva­lua­ti­on ist eine Art neoli­be­ra­le Esote­rik entstan­den, die Anlei­tun­gen gibt, wie man sich im Gefüge des Wett­be­werbs behaup­ten kann. Abhand­lun­gen zum Thema Zeit­ma­nage­ment sind nur eine Facet­te dieses Trends.

2. Frei­zeit
und ihre Rechtfertigung
Der ehema­li­ge ameri­ka­ni­sche Präsi­dent Carter soll seinen Mitar­bei­tern noch einen sorg­sa­men Umgang mit der Zeit verord­net haben. Er galt als Verfech­ter des Müßig­gangs. Wer über möglichst viel Frei­zeit verfüg­te, galt in seinen Augen als nütz­li­cher als ein Mensch, der sich selber ausbeu­te­te. Mit seinen Ansich­ten stand der Präsi­dent nicht allei­ne: Schon Bert­rand Russel hatte in seinem „Lob des Müßig­gangs“ eine Auffas­sung zum Umgang mit der Zeit vertre­ten, die im Kontrast zu konser­va­ti­ven Wert­vor­stel­lun­gen stand. Die Moral der Arbeit war für ihn eine Skla­ven­mo­ral, die in der neuzeit­li­chen Welt die Skla­ve­rei ersetz­te. Als Russel seine Gedan­ken nieder­schrieb, hätte der Begriff „Zeit­ma­nage­ment“ wahr­schein­lich noch Befrem­den ausge­löst. Heute wundert sich darüber keiner mehr. Das geheim­nis­vol­le Konstrukt der „Märkte“ bestimmt unser Denken und Handeln, und wir sind es gewohnt, auch noch die alltäg­lichs­ten Dinge in einen ökono­mi­schen Wort­schatz zu klei­den. Wir „inves­tie­ren“ in Bezie­hun­gen , „produ­zie­ren“ Nach­wuchs und „kalku­lie­ren“ unsere Lebens­ri­si­ken. Moder­nes Zeit­ma­nage­ment soll uns dabei helfen, mit unse­rer wert­volls­ten „Ressour­ce“ – der Zeit – zu „haus­hal­ten“.

Damit die durch­öko­no­mi­sier­te Welt reibungs­los funk­tio­niert, sind bestimm­te Glau­bens­sät­ze notwen­dig, um die zuneh­men­de Entmensch­li­chung der Arbeits­welt zu verschlei­ern. Der Einzel­ne als Produk­ti­ons­fak­tor soll glau­ben, dass ein vernünf­ti­ger Umgang mit der Zeit auch noch in der Gegen­wart möglich sei. Aus der zuneh­men­den Zeit­not wird so eine doppel­te Tugend, die einer­seits das Über­le­ben der Zeit­ma­nage­ment-Predi­ger sichert und uns ande­rer­seits Zustän­de hinneh­men lässt, die ansons­ten wohl eine Revol­te auslö­sen würden. Wer noch über ein gesi­cher­tes Einkom­men verfügt, weiß längst, dass immer mehr Arbeit auf immer weni­ger Köpfe verteilt wird. Zeit­ma­nage­ment ist in diesem Kontext eine Über­le­bens­fra­ge. Denn wenn man nicht zu den 20 Prozent der Mitar­bei­ter zählt, die gemäß dem Pareto-Prin­zip 80 Prozent der Leis­tung erbrin­gen, läuft man schnell Gefahr, aus dem Erwerbs­le­ben auszuscheiden.

Wie doppel­zün­gig der Begriff Zeit­ma­nage­ment von seinen Verfech­tern verwen­det wird, lässt sich unter ande­rem bei Eckhard Seidel zeigen. Der Titel seines Ratge­bers „Zeit­stress – ade!“ lässt vermu­ten, es ginge dem Autor um eine Entlas­tung seiner Leser­schaft von Alltags­mü­hen. Schaut man aber genau­er hin, merkt man, dass Frei­heit von Stress für Seidel keinen Selbst­zweck darstellt, sondern dem Credo des Erfolgs verpflich­tet ist. Demnach dienen Erho­lungs­pha­sen als Kraft­quel­le für Führungs­kräf­te, die etwas bewe­gen wollen. Erho­lung ist in diesem Sinne kein legi­ti­mes mensch­li­ches Bedürf­nis, sondern recht­fer­tigt sich allein aus über­ge­ord­ne­ten wirt­schaft­li­chen Zielen. Erhol­te Mana­ger errei­chen diese Ziele offen­bar leich­ter, weshalb die (an sich anrü­chi­ge) „Frei­zeit“ ihren nega­ti­ven Beigeschmack verliert. Wirkte sich Müßig­gang nicht posi­tiv auf die Leis­tungs­fä­hig­keit aus, verlö­re er nach diesem Welt­bild seine Rechtfertigung.
3. Verrä­te­ri­sche Sprache
Für das, was Zeit­ma­nage­ment ausmacht, ließen sich verschie­de­ne Bezeich­nun­gen finden. Anstatt von Zeit­ma­nage­ment könnte man ebenso gut von Zeit­ge­stal­tung, Zeit­ver­wal­tung oder Zeit­pla­nung spre­chen. Was man mit den entspre­chen­den Begrif­fen verbin­det, hängt davon ab, aus welchem Fach­ge­biet sie stam­men. Wer etwas „managt“, ist auf nutzen­ori­en­tier­te Opti­mie­rung aus, wohin­ge­gen das „Gestal­ten“ einen krea­ti­ve­ren Umgang mit der Sache nahe­legt. Welche Begriff­lich­keit sich durch­setzt, ist eine Macht­fra­ge und sagt viel über den gegen­wär­ti­gen Zustand einer Gesell­schaft aus. So wäre es heut­zu­ta­ge kaum denk­bar, im Zusam­men­hang mit der Tages­pla­nung noch von „Zeit­ver­wal­tung“ zu spre­chen: Verwal­tung klingt allzu passiv und beschwört Bilder von blei­chen Buch­hal­tern in verstaub­ten Büros herauf. Man fühlt sich unver­mit­telt an Franz Kafkas „Der Prozess“ erin­nert und durch­lei­det mit Josef K. den Gang durch graue Gerichts­in­stan­zen. Wie viel frischer wirkt es da, von Manage­ment zu spre­chen, selbst wenn das Wort nicht nur posi­tiv belegt ist?

Fach­sprach­li­che Begrif­fe aus dem Wirt­schafts­le­ben setzen sich deshalb durch, weil die Ökono­mie gegen­wär­tig die größte Macht auf unser Denken und Handeln ausübt. Macht ist eben nichts, was sich zwischen denen, die sie inne­ha­ben und denen, die sie erlei­den, aufteilt. Viel­mehr spannt sie ein Netz, das die Indi­vi­du­en in viel­fäl­ti­ger Weise mitein­an­der verknüpft. Für Foucault ist der Einzel­ne nicht Ziel­schei­be, sondern Über­trä­ger der Macht. Das lässt sich anhand der Popu­la­ri­tät von Zeit­ma­nage­ment-Metho­den gut aufzei­gen: Propa­gan­dis­ten des Kapi­ta­lis­mus von Hayek bis Fried­man haben die Wirt­schaft von ihrer dienen­den Funk­ti­on befreit. Gleich­zei­tig haben sie den Trend umge­kehrt und die Menschen zu Dienern der Wirt­schaft degra­diert. Man weiß zwar nicht mehr genau, wem dieses System nutzt, aber es hat eine Macht geschaf­fen, die sich im Alltag der Menschen selbst erhält und auswei­tet. Der Einzel­ne betrach­tet sich in dieser „Neuen Welt­ord­nung“ als Zahn­rad, das seine Daseins­be­rech­ti­gung aus seinem Mehr­wert schöpft und jeder­zeit ersetzt werden kann. Wer im freien Spiel der Kräfte nicht auf der Stre­cke blei­ben will, muss Schwä­chen ausmer­zen, die seinem Erfolg im Wege stehen. Dazu gehört die Fähig­keit, seine Zeit für die ertrag­reichs­ten Tätig­kei­ten einzu­set­zen und unnö­ti­ge, zeit­kos­ten­de Fakto­ren auszu­schal­ten. Weil sich das Arbeits­pen­sum des Indi­vi­du­ums unter dem Druck des Wett­be­werbs stetig erhöht, entsteht ein Bedarf an Ratge­bern, die Hilfe bei der Bewäl­ti­gung des Alltags verspre­chen. Anlei­tun­gen zum „Zeit­ma­nage­ment“ spie­len in diesem Geschäft eine wich­ti­ge Rolle. Sofern die erlern­ten Metho­den zu einer Entlas­tung führen, verbrei­ten die Selbst­ma­na­ger ihre Erfah­run­gen weiter: Zeit lässt sich mit ökono­mi­schen Mitteln belie­big vermeh­ren, lautet die unter­schwel­li­ge Botschaft. Die Apos­tel der Zeit­pla­nung fungie­ren dabei als Über­trä­ger der Macht im Sinne Foucaults. Diese Macht führt zur Selbst­dis­zi­pli­nie­rung und erstickt Zwei­fel an frag­wür­di­gen Entwick­lun­gen in der Arbeitswelt.

4. Auswir­kun­gen des
Hamsterrads
Dennoch sind die Klagen über das (zu) hohe Tempo unse­rer Gesell­schaft so alt wie die Kritik an der Moder­ne. Warum wir uns immer weiter beschleu­ni­gen, erklärt sich aus dem Zeit­ma­nage­ment selbst. Denn wo neue Frei­räu­me entste­hen, müssen diese nach der Markt­lo­gik gewinn­brin­gend genutzt werden. Gelingt es also dem Ange­stell­ten Schmidt, seine Zeit­ef­fi­zi­enz durch Selbst­kon­trol­le zu stei­gern, so fühlt er sich gezwun­gen, die gewon­ne­ne Frei­zeit sogleich wieder zu inves­tie­ren. Für jene, die noch im Erwerbs­le­ben stehen, beschleu­nigt sich dadurch die Takt­fre­quenz, während die Zentri­fu­gal­kräf­te des Mark­tes alle Schwä­che­ren ins Abseits kata­pul­tie­ren. So wird das „Nonstop!“ im „Turbo-Kapi­ta­lis­mus“ „zum Impe­ra­tiv jegli­cher Moder­ni­sie­rung. Mit dem Effekt, dass wir reich sind an Gütern, aber arm an Zeit.“

Micha­el Ende muss diesen Wahn­sinn schon früh geahnt haben. In seinem Roman „Momo“ beschreibt er, wie sich eine italie­ni­sche Klein­stadt in eine steri­le Gefühls­wüs­te verwan­delt, nach­dem dubio­se graue Herren mit den Bewoh­ner Zeit­spar­ver­trä­ge geschlos­sen haben. Die Klein­städ­ter mutie­ren im Nu zu kalten Selbst­op­ti­mie­rern, während ihre Vertrags­part­ner die gespar­te Zeit als Zigar­ren­rauch inha­lie­ren. Obwohl der Roman „Momo“ als Kinder­buch gilt, beinhal­tet er viele Weis­hei­ten, die man auch als Warnung an die Erwach­se­nen­welt verste­hen könnte. Endes graue Herren verkör­pern gleich zwei Aspek­te der neoli­be­ra­len Wirk­lich­keit. Sie sind einer­seits Profi­teu­re, ande­rer­seits Opfer des Systems; denn ohne Rauch können sie nicht über­le­ben, und wenn alle Zeit gespart ist, lösen sie sich in Luft auf. Demnach sollte man sehr vorsich­tig sein, wenn einem Männer in Nadel­strei­fen­an­zü­gen Bücher wie „Zeit­stress – ade!“ anprei­sen. Ihre Semi­na­re kosten Geld und sie können das endli­che Gut Zeit nicht vermeh­ren. Viel­mehr beschleu­ni­gen ihre Metho­den unse­ren Rhyth­mus und lenken uns von den wahren Proble­men ab. Das kann zu einer verkürz­ten Lebens­er­war­tung (Zeit­ver­lust) oder zu einer vermin­der­ten Lebens­qua­li­tät (Burn­out) führen.

Die mensch­li­che Lust am Zeit­ma­nage­ment bringt indes noch andere Proble­me mit sich. Nach unse­rer Erwar­tung muss alles jeder­zeit und über­all sofort verfüg­bar sein. Mensch und Natur entwi­ckeln sich daher immer weiter ausein­an­der. Diese gegen­läu­fi­ge Rhyth­mik bewirkt, dass die Natur verge­wal­tigt werden muss, um unsere Bedürf­nis­se zu befrie­di­gen. Geflü­gel­fa­bri­ken, Genmais­kul­tu­ren und Import­äp­fel aus Argen­ti­ni­en sind Sympto­me dersel­ben Krank­heit. Immer geht es darum, möglichst viel in möglichst kurzer Zeit zu produ­zie­ren – oder Produk­te entge­gen dem natür­li­chen Rhyth­mus verfüg­bar zu halten. „Wir verbrau­chen Ressour­cen weit­aus schnel­ler als sich diese in der Natur rege­ne­rie­ren können“, schreibt Manuel Schnei­der. Hier schließt sich der Kreis zum Thema: Denn Menschen gehor­chen densel­ben Geset­zen wie Hühner und Äpfel, während Zeit­gu­rus das Gegen­teil verkün­den. Der Lebens­rhyth­mus verschließt sich Manage­ment-Metho­den, weil die persön­li­che Leis­tungs­fä­hig­keit schwankt. Anders gesagt: Diesel­be Aufga­be kann am Montag kaum Mühe kosten, am Diens­tag dage­gen eine immense Heraus­for­de­rung darstel­len. Weil dem so ist und sich Zeit kaum planen lässt, empfiehlt Micha­el Baeris­wyl, sich an das Motto von Elias Canet­ti zu halten: „Man kann nur leben, indem man oft genug nicht macht, was man sich vornimmt.“
5. Das Phänomen
Lothar Seiwert
Baeris­wyl bezieht sich ausdrück­lich auf Lothar Seiwert, der im deut­schen Zeit­ma­nage­ment-Busi­ness eine heraus­ra­gen­de Rolle spielt. Was Seiwert tut, lässt sich nur schwer einord­nen. Im Gegen­satz zu ande­ren Vertre­tern seines Metiers, gesteht er dem Müßig­gang einen eige­nen Wert zu. Außer­dem kriti­siert er die allge­mei­ne Rast­lo­sig­keit und Hetze unse­rer Gesell­schaft. Umso selt­sa­mer wirken seine Ratschlä­ge, die den Zeit­stress eher erhö­hen als vermin­dern dürf­ten. Gerne zitiert wird seine soge­nann­te ALPEN-Metho­de. Dabei steht das A für Aufga­ben zusam­men­stel­len, das L für Länge der Akti­vi­tä­ten einschät­zen, das P für Puffer­zei­ten einpla­nen, das E für Entschei­dun­gen tref­fen und das N für Nach­kon­trol­le. Die Metho­de mag bei Tätig­kei­ten funk­tio­nie­ren, die keinen leben­di­gen Einflüs­sen unter­lie­gen. Kommt aller­dings der Faktor Mensch hinzu, stößt man damit schnell an seine Gren­zen. Das gilt insbe­son­de­re dann, wenn unser mensch­li­ches Gegen­über Lothar Seiwert verin­ner­licht hat:
„Das Wesent­li­che – was ist das über­haupt? Das »Wesent­li­che« – hinter diesem Wort verbirgt sich der Begriff »Wesen«. Jedes Wesen, jeder Mensch ist einma­lig, einzig­ar­tig. Jeder Mensch ist anders, und so ist auch das Wesent­li­che für jeden von uns etwas sehr Indi­vi­du­el­les. Etwas, das unse­rem inners­ten Wesen entspricht. Deshalb geht es bei Noch mehr Zeit für das Wesent­li­che auch nicht in erster Linie um Zeit­ma­nage­ment, um Prio­ri­tä­ten­lis­ten oder Wochen­plä­ne. Im Mittel­punkt dieses Buches stehen Sie. Sie ganz persön­lich und Ihr Umgang mit der Zeit.“

Kurzum: Der Einzel­ne sollte den Umgang mit seiner Zeit nach eige­nen Inter­es­sen rich­ten. Was geschä­he wohl, wenn sich jeder daran hielte? Der Blick aufs Wesent­li­che würde jeden Konsens im Keim ersti­cken und das Zeit­ma­nage­ment ad absur­dum führen. Jeden­falls dann, wenn die geplan­ten Aufga­ben von einem mensch­li­chen Mitein­an­der abhin­gen. Schließ­lich kann Niemand erwar­ten, dass sich seine Wünsche mit denen seiner Mitmen­schen über­schnei­den. Termi­ne würden in der Seiwert­schen Welt allen­falls dann einge­hal­ten, wenn die Inter­es­sen der Part­ner zu hundert Prozent über­ein­stimm­ten. Sie wünschen am Donners­tag ein Gespräch mit mir? Tut mir Leid, aber an diesem Tag habe ich Wesent­li­che­res geplant! Bezo­gen auf die ALPEN-Metho­de, könnte man diesen Effekt als L‑Paradoxon bezeich­nen: Je mehr jeder Einzel­ne bei seiner Zeit­pla­nung auf sich selber achtet, umso unbe­re­chen­ba­rer wird die Länge der Akti­vi­tä­ten für den Zeit­pla­ner. Denn ob ich von Herrn Müller recht­zei­tig bekom­me, was ich mir wünsche, hängt von dessen Gutdün­ken – von dessen Wesen – ab. Viel­leicht liegt darin der wahre Grund für die zuneh­men­de Hektik unse­rer Gesell­schaft. Wir achten bloß noch auf unsere eige­nen Inter­es­sen und vernach­läs­si­gen dieje­ni­gen der Ande­ren. Das bringt den Fluss des Handelns ins Stocken und führt zu einem Mehr an Stress.

Nüch­tern betrach­tet lautet Seiwerts Maxime, dass ein gehö­ri­ges Maß an Ich-Bezo­gen­heit der rechte Weg zum Glück sei. Kurzum: Wenn alle an sich selbst denken, ist an jeden genug gedacht. Deshalb erin­nern die Botschaf­ten von Deutsch­lands höchs­tem Zeit­ma­na­ger an jene Milton Fried­mans: Der Markt der Wesent­lich­kei­ten wird es schon irgend­wie rich­ten und alle haben am Ende genü­gend Zeit für sich. Lothar Seiwert muss sich jeden­falls kaum verbie­gen, um seiner Linie treu zu blei­ben: Er bezeich­net sich selbst als „Top-Refe­ren­ten“ und verlangt aktu­ell für seine Semi­na­re 890 Euro pro Termin und Teil­neh­mer. In Anbe­tracht der Anzie­hungs­kraft des „Zeit­papsts“ nehmen sich Peer Stein­brücks Rede­ho­no­ra­re dage­gen gera­de­zu kärg­lich aus. Immer­hin weiß der Semi­nar­teil­neh­mer genau, wieviel Zeit er für Herrn Seiwert einpla­nen muss: Die Schu­lun­gen dauern wahl­wei­se von 08:08 bis 18:08 Uhr („Mehr Zeit für das Wesent­li­che“) oder von 08:18 – 16:16 Uhr („Wenn du es eilig hast, gehe lang­sam“). Wohl dem, der dazu Zeit hat.
6. Zeit­ma­nage­ment als
Form der Selbstausbeutung
In der Ausga­be 06/2008 erschien in der Zeit­schrift HUMANE WIRTSCHAFT unter dem Titel „Wer den Markt mora­lisch fassen will, fasst immer nur sich selbst“ ein Arti­kel von Alex­an­der Prei­sin­ger. Der Text schil­dert in aller Kürze, wie sich die Iden­ti­tät des Durch­schnitts­bür­gers in den letz­ten Jahr­zehn­ten verän­dert hat. Der Mensch begreift sich demnach mehr und mehr als funk­tio­nel­le Einheit, die einem höhe­ren Zweck – dem Zweck des Mark­tes – dient. „An die Stelle gesell­schaft­li­cher Inter­es­sens­kon­flik­te tritt nur noch der als indi­vi­du­el­ler Kampf wahr­nehm­ba­re Wett­be­werb aller gegen alle.“ In so einem Klima empfin­den die Beschäf­tig­ten sowohl die Ausdeh­nung der Arbeits­zei­ten als auch die Ausdeh­nung der Arbeits­be­las­tung als normal. Immer­hin haben sie noch Arbeit und möch­ten weiter­hin am Wett­be­werb teil­neh­men. Das ändert aller­dings nichts an einem vermehr­ten Bedürf­nis nach Zeit, das Männer wie Lothar Seiwert für sich nutzen.

Zeit­ma­nage­ment verspricht den Selbst­op­ti­mie­rern einen Rest an mensch­li­cher Würde. Dabei über­se­hen viele, dass sie zunächst einmal Zeit (und Geld!) inves­tie­ren müssen, um an die verspro­che­nen Früch­te zu gelan­gen. Das verdeut­licht zum einen die pseu­do­re­li­giö­se Dimen­si­on der vermit­tel­ten Heils­bot­schaf­ten, zum ande­ren deren Funk­ti­on in einer zuneh­mend durch­öko­no­mi­sier­ten Gegen­wart: Zeit­ma­nage­ment-Gurus wie Seidel und Seiwert erhal­ten den Glau­ben an die Mach­bar­keit des Mensch­li­chen unter dem herr­schaft­li­chen Einfluss der „Märkte“. Das führt zu einer Selbst­dis­zi­pli­nie­rung ihrer Zuhö­rer­schaft, die im Sinne der „Neuen Sozia­len Markt­wirt­schaft“ durch­aus funk­tio­nal ist: Die Markt­ele­men­te beuten sich will­fäh­rig aus und glau­ben an die Mär indi­vi­du­el­ler Freiheit.

7. Ausblick
Die Situa­ti­on erin­nert stark an das, was sich auf dem Inter­net-Video „Anlei­tung zur Verskla­vung – Die Jones Plan­ta­ge“ abspielt: Nach­dem die Skla­ven auf einer Nach­bar­plan­ta­ge in ihrer Arbeits­leis­tung nach­ge­las­sen haben und eine Revol­te droht, enga­giert Mister Jones Mr. Smith. Dieser soll verhin­dern, dass auf der Jones-Plan­ta­ge eine ähnli­che Situa­ti­on wie bei der Konkur­renz eintritt. Smith schrei­tet zur Tat und erklärt die Skla­ven der Jones-Plan­ta­ge für frei. Gleich­zei­tig sorgt er mit einer subti­len Rheto­rik dafür, dass sich an den wahren Verhält­nis­sen nichts ändert: Jones bleibt Plan­ta­gen­ver­wal­ter, weil er der einzi­ge ist, der weiß, wie man eine Plan­ta­ge führt. Die ehema­li­gen Skla­ven dage­gen schuf­ten in gewohn­ter Manier weiter. Sie tun das, weil Smith sie vor den ande­ren Plan­ta­gen­be­sit­zern gewarnt hat: Diese achten angeb­lich weni­ger auf das Wohl ihrer „Mitar­bei­ter“ und verskla­ven dieje­ni­gen, die von der Jones-Plan­ta­ge flie­hen. Als einer der „Befrei­ten“ in der Gegen­wart von Mr. Smith die „neuen alten“ Zustän­de anpran­gert, wird er unter dem Jubel seiner Kame­ra­den erschlagen.

Lothar Seiwert und seine „grauen Männer“ machen im Grunde dassel­be wie Mr. Smith: Sie behaup­ten, mit ihren Metho­den sei es möglich, dem Hams­ter­rad zu entrin­nen und sorgen im selben Atem­zug dafür, dass sich dieses Rad immer schnel­ler dreht. Dabei schämt sich Seiwert noch nicht einmal, seine wahren Absich­ten zuzu­ge­ben: Seit 2011 insze­niert er unter dem Motto „Ausge­tickt“ die Abkehr vom Zeit­ma­nage­ment und räumt ein, wozu seine alten Metho­den gedient haben. Der Fokus sei auf die Frage gerich­tet gewe­sen „Wie kriege ich noch mehr in noch kürze­rer Zeit gere­gelt?“ Er sei schon immer davon über­zeugt gewe­sen, dass man mit Zeit­ma­nage­ment allein keine Zeit­pro­ble­me lösen könne. Seine Ziel­grup­pe sei aller­dings für diese Erkennt­nis „noch nicht reif“ gewe­sen. Der Zeit-Guru will neuer­dings offen­bar etwas mehr Tiefe in sein Programm brin­gen. Unter dem Stich­wort Work-Life-Balan­ce legt er nunmehr größ­ten Wert darauf, den Menschen nicht mehr als bloßen Produk­ti­ons­fak­tor zu begrei­fen. Das macht Mut – selbst wenn einen Seiwerts Wander­pre­di­ger­men­ta­li­tät irri­tie­ren mag. 

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