Generosität – und wie sie unser Leben verändert – Buchrezension von Bernd Guggenberger

Gene­ro­si­tät – und wie sie unser Leben verändert
Buch­re­zen­si­on von Bernd Guggenberger

Das so enga­gier­te wie gedan­ken­star­ke Plädoy­er für Gene­ro­si­tät aus der Feder des Zeit­dia­gnos­ti­kers und poli­ti­schen Philo­so­phen Werner Peters ist kein wohl­fei­ler Empö­rungs­zwi­schen­ruf wider den geist­los-zyni­schen Roulette-Kapi­ta­lis­mus. Viele, viel­leicht allzu viele solcher Zwischen­ru­fe („Empört Euch!“, „Bändigt den Kapi­ta­lis­mus!“, „Fangt die Bestie ein!“) hat es seit Mitte des vergan­ge­nen Jahr­zehnts gege­ben, mal zwei­fel­los von eindrucks­vol­ler mora­li­scher Stimm­ge­walt, häufig aber auch im gängi­gen Nörgel­ton der unver­meid­li­chen stim­mungs­pa­ra­si­tä­ren Empörungsmitläufer.

Es fällt uns alle­mal leich­ter zu benen­nen, was uns stört und miss­fällt, als Posi­ti­on zu beziehen. 

Der Autor des hier vorzu­stel­len­den Buches „GENEROSITÄT – Für einen aufge­klär­ten Egois­mus“ belässt es nicht beim Kritik- und Krisen­la­men­to, er benennt den Ausweg – die Tugend der Gene­ro­si­tät. Er ist alles andere denn ein wutei­fern­der Savo­na­ro­la, der die säku­la­re Sturm­glo­cke läutet und bei Strafe ewiger Verdamm­nis Umkehr fordert und zur Absage nötigt an alles, was bis eben noch zählte. Von Werner Peters wird keiner mora­lisch über­for­dert; er trak­tiert uns nicht mit unleb­ba­ren und daher lebens- und alltags­prak­tisch folgen­lo­sen Blut‑, Schweiß- und Tränenpredigten!

Seine Antwort ist so schlicht, dass sie eigent­lich gar nicht falsch sein kann: Sei groß­zü­gig! Mit Gier sicherst Du Dir keinen Wohl­stand, und glück­lich macht sie schon gar nicht! Was für ihn aber vor allem zählt: Jeder kann mit der Welt­ver­bes­se­rung selbst begin­nen. Gene­ro­si­tät ist mach­bar, Herr Nach­bar – hier und heute und über­all und immer wieder! Also, warte nicht, bis jemand zur großen System­ver­än­de­rung bläst oder den Kapi­ta­lis­mus abschafft; denn das kann dauern und das Leben ist schließ­lich, sterb­lich­keits­hal­ber, ein endli­ches Projekt! Du selbst hast, in jedem Augen­blick, jene Fäden in der Hand, die für das „gute Leben“ den Unter­schied machen!

Für dieses „gute Leben“ bedarf es nicht der Selbst­ver­leug­nung des Heili­gen oder des welt­ent­sa­gen­den Weisen: Wer sich die Tugend der Gene­ro­si­tät zuei­gen macht, braucht nicht im härenen Bußge­wand einher­zu­schrei­ten. Genuss­fä­hig­keit gehört ebenso ins Reper­toire des „aufge­klär­ten Egois­mus“ wie die befrei­en­de Konsum­di­stanz inmit­ten des markt­schreie­ri­schen Überangebots.

In der Formel vom „aufge­klär­ten Egois­mus“ bringt Werner Peters zusam­men, was seit dem Beginn der Moder­ne in Theo­rie und Praxis immer wieder ausein­an­der drif­tet: Indi­vi­dua­lis­mus und Kollek­ti­vis­mus, Eigen­ver­ant­wor­tung und Soli­da­ri­tät, Beson­de­rung und Gemein­wohl. Wir über­se­hen ja meist, dass schon am Schei­tel­punkt zur Neuzeit eine Art Zwil­lings­wie­ge stand: Das moder­ne Europa brach­te, wie Micha­el Oakes­hott gezeigt hat, nicht einen einzi­gen Typus „moder­ner Mensch“ hervor: nicht nur das Indi­vi­du­um, die unver­wech­sel­ba­re Täter­fi­gur des „uomo unico“, der als Künder und Motor des Neuen, als Entde­cker und Entre­pre­neur, als Wissen­schaft­ler und Künst­ler die Welt allein von sich her dachte und entwarf, sondern auch den in all seinem Empfin­den und Vermö­gen diame­tral entge­gen­ge­setz­ten Zwil­ling: das Indi­vi­du­um wider Willen oder, wie Oakes­hott formu­liert, das „geschei­ter­te Indi­vi­du­um“ – und dieses nicht ein Relikt vergan­ge­ner Zeiten, sondern ein durch und durch moder­ner Typus; „Produkt dersel­ben Auflö­sung kollek­ti­ver Bindun­gen, die (auch) das moder­ne euro­päi­sche Indi­vi­du­um hervor­ge­bracht hatte“.

Ich bin mir nicht sicher, ob dem Autor dieser grund­sätz­lich ange­leg­ten „Einfüh­rung in die Tugend der Gene­ro­si­tät“, wie ich sie nennen möchte, bewusst ist, welch bedeut­sa­men Beitrag er uns damit auch zur über­fäl­li­gen „Theo­rie der Bürger­ge­sell­schaft“ vorlegt. Längst verwei­sen Begrif­fe wie „Bürger­ge­sell­schaft“ oder „Civil Socie­ty“, die sich seit Ende der 80er Jahre wach­sen­der Beliebt­heit erfreu­en, darauf, dass Demo­kra­tie und Mark­wirt­schaft allein noch kein wohl geord­ne­tes und gut verfass­tes Gemein­we­sen verbür­gen. Die Anru­fung der Bürger­ge­sell­schaft enthält den Hinweis auf jene dritte Dimen­si­on jenseits von Markt und Staat, ohne die das Gemein­schafts­le­ben nicht gedeiht. Die Verfech­ter der Bürger­ge­sell­schaft suchen die Veren­gung auf den staats­bür­ger­li­chen Inter­ak­ti­ons­zu­sam­men­hang aufzu­bre­chen, der tradi­tio­nell im Bürger­be­griff mitschwingt. Sie sind bestrebt, neben dem Staats­bür­ger vor allem auch den Gesell­schafts­bür­ger sicht­bar zu machen, der sich bereits weit unter­halb der staat­lich poli­ti­schen Ebene aufge­ru­fen fühlt. Die bevor­zug­te Bühne des Bürgers ist längst nicht mehr die der offi­zi­el­len, soll heißen, der staat­li­chen Poli­tik: Die „volon­té géné­ra­le“ spricht allent­hal­ben im Idiom der „parti­cu­liers“.

Früher begann der Tag meist mit einer Gesell­schafts­schel­te, inzwi­schen haben die Gebil­de­te­ren unter den Gesell­schafts­ver­äch­tern erkannt, dass zuerst einmal eine Gesell­schaft da sein muss, bevor man sie abschaf­fen oder ändern kann. Das will sagen: das stets Prekä­re des Sozia­len, das immer nur Vorläu­fi­ge und Umstän­de­ge­schul­de­te könnte wieder in die Wahr­neh­mungs­per­spek­ti­ve eines allge­mei­ne­ren Bewusst­seins treten. Was hier gefor­dert wird: sozia­les Verhal­ten, Zivil­cou­ra­ge, Groß­mut und Gemein­sinn, lässt sich nicht von oben anbe­feh­len oder poli­tisch veran­las­sen; wenn über­haupt, lässt es sich allen­falls umwe­gig – z. B. über Bildung und Vorbild­ge­ber – behut­sam beför­dern. Die Meis­ter des Sozia­len fallen nicht vom Himmel. So, wie wir als gehfä­hi­ge Wesen zur Welt kommen, aber viel Trai­nings­schweiß vergie­ßen, um schnel­le oder ausdau­ern­de Läufer zu werden, so kommen wir eben auch nur als sozi­al­fä­hi­ge und sozi­al­be­dürf­ti­ge Wesen zur Welt, und es bedarf der ausdau­ern­den Übung, viel­leicht auch der Anlei­tung und kontrol­lier­ten Unter­wei­sung, ehe wir zu sozi­al­kom­pe­ten­ten oder gar sozi­al­vir­tuo­sen Zeit­ge­nos­sen avancieren. 

Gleich­wohl – das Gebot der Stunde heißt Frei­wil­lig­keit! Werner Peters ist ein veri­ta­bler Ameri­ka­ken­ner, der über viele Jahre in den Verei­nig­ten Staa­ten gelebt hat, und dem wir ein wich­ti­ges Ameri­ka­buch verdan­ken. Ameri­ka bietet, wie keine andere Nation, ein Modell dafür, dass extre­mer Indi­vi­dua­lis­mus und eine gera­de­zu habi­tua­li­sier­te Bereit­schaft zur spon­ta­nen priva­ten Wohl­fahrt sich nicht nur nicht ausschlie­ßen, sondern sogar wech­sel­sei­tig bedin­gen. Volun­tee­ring, der regel­mä­ßi­ge frei­wil­li­ge Einsatz für die Gemein­schaft ohne mone­tä­ren Profit, macht erst jene selbst­be­wuss­te „Gesell­schaft der Einzel­nen“ möglich, als die sich die Ameri­ka­ner gern sehen. 

Zwischen Egois­mus und Altru­is­mus, zwischen Selbst­ver­wirk­li­chung und Gemein­wohl klaf­fen im Selbst­ver­ständ­nis der Ameri­ka­ner keine Welten. Für das durch und durch indi­vi­dua­lis­ti­sche Ameri­ka ist „citi­zen­ship“ – die Teil­ha­be an Rech­ten und Pflich­ten der res publi­ca – Teil des natio­na­len Credos. Ameri­ka ist „a nation of join­ers“. Die beiden Pole, welche für die ameri­ka­ni­sche Kultur der Frei­wil­lig­keit maßgeb­lich sind, lassen sich am tref­fends­ten mit zwei schein­bar gegen­sätz­li­chen Formeln beschrei­ben, die im gedank­li­chen Einzugs­feld des „Volun­tee­rism“ immer wieder zitiert werden: „to make a diffe­rence“ lautet die eine und „to be part of some­thing bigger“ die andere.

Größer könnte der Span­nungs­bo­gen nicht sein: Während die erste Formel auf den unbe­ding­ten Willen abhebt, etwas Unver­wech­sel­ba­res, Einzig­ar­ti­ges zu bewir­ken, beruft sich die zweite auf das größe­re Ganze, das, was über den einzel­nen und sein Vermö­gen hinaus­weist und allem Einzel­stre­ben Rich­tung, Rang und Sinn zuspricht.

Was Werner Peters uns mit seiner sozia­len Zauber­for­mel von der „Gene­ro­si­tät“ (neben­bei: einfach auch ein schö­ner, unver­brauch­ter Begriff!) vor Augen führt, ist einfach dies: Es gilt, beide Visio­nen zusam­men­zu­füh­ren, weil beide sich gegen­sei­tig bedin­gen: die Unver­wech­sel­bar­keit des einzel­nen berei­chert das sozia­le Ganze und dieses wirkt orien­tie­rend und motiv­schaf­fend auf den indi­vi­du­el­len Einsatz zurück.

Das Ziel ist eine „aktive Gesell­schaft“ (Amitai Etzio­ni), eine Gesell­schaft von hoher „respon­si­ve­ness“, wie die ameri­ka­ni­schen Kommu­ni­ta­ris­ten dies formu­lie­ren. Das bedeu­tet vor allem: eine Gesell­schaft, die jedem offen steht, die keinen ausgrenzt und die alle Motive , Vermö­gen, Fähig­kei­ten und Bereit­schaf­ten bündelt; eine Gesell­schaft, die im Prin­zip erst dann in vollem Umfang gelun­gen ist, wenn alle sich – nach Vermö­gen und Talent – einbrin­gen können und einbrin­gen wollen.

Das Thema, welches hier aufge­ru­fen ist, ist gewiss eines von waghal­si­ger Grund­sätz­lich­keit; ein Thema, das im Schnitt­punkt der großen zeit­ak­tu­el­len Problem- und Debat­ten­li­ni­en liegt. Mit an vorders­ter Stelle sind dies die Globa­li­sie­rung und der außer Rand und Band gera­te­ne Finanz­ka­pi­ta­lis­mus, der sich seit den 90er Jahren, nach dem Verlust seines histo­ri­schen Wider­parts in Gestalt des sozia­lis­ti­schen Teils der Welt, auch aller inne­ren Schran­ken und hemmen­den Regu­lie­run­gen – bis hin zu einst mora­lisch und kultu­rell bewehr­ten Scham­gren­zen – entle­digt hat. 

Unschwer zu sehen, dass es hier um Heraus­for­de­run­gen geht, die alles poli­ti­sche und ökono­mi­schen Denken und Handeln auf eine neue Basis stel­len. Es gilt vor allem, die Einsicht in die Bedeu­tung des „mora­li­schen Kapi­tals“ einer Gesell­schaft zu stär­ken; die Einsicht, dass Gemein­sinn, Verant­wor­tung und Bürger­tu­gend immer auch ökono­mi­sche Ressour­cen reprä­sen­tie­ren, d. h., dass sie in letz­ter Instanz jene Bürger­ord­nung tragen, von welcher die neoli­be­ra­len Markt­apo­lo­ge­ten wie selbst­ver­ständ­lich profi­tie­ren, ohne sie hervor­ge­bracht zu haben und ohne zu ihrer Erneue­rung beizutragen.

In der Spur dieser Einsicht bewegt sich auch jener Wert- und Bewusst­seins­wan­del, für den dieses Buch steht: Es erteilt dem unge­hemm­ten Indi­vi­dua­lis­mus eine nicht weni­ger schar­fe Absage wie dem sozi­al­feind­li­chen Anspruchs­den­ken und der passi­ven Betreu­ungs­men­ta­li­tät. Der hier propa­gier­te Werte­wan­del trifft sich – ein Stück weit jeden­falls – mit der analy­ti­schen und fiska­li­schen Begrün­dung der Gren­zen sozial- und wohl­fahrts­staat­li­cher Gestal­tungs­fä­hig­keit: Der inter­ven­ti­ons­po­li­tisch auf Diät gesetz­te, sich verschlan­ken­de Staat appel­liert nicht von unge­fähr an die Selbst­ver­ant­wor­tung und Soli­da­ri­tät seiner Bürger! (Dies aber muss der Plau­si­bi­li­tät des gefor­der­ten Wandels keines­wegs abträg­lich sein.)

Ganz zu Recht wird Werner Peters nicht müde, uns zu versi­chern, dass die Tugend der Gene­ro­si­tät die fatale Philo­so­phie von Opfer und Verzicht über­win­det: Ich muss mich nicht kastei­en, muss nicht erst ein ganz ande­rer werden und mich perma­nent selbst über­win­den. Wenn ich gebe, teile und mittei­le, beloh­ne ich mich selbst am meis­ten! Jeder hat es schon mal erlebt, jeder weiß, dass es stimmt: Geben macht glück­li­cher als nehmen! Und jeder hat, unab­hän­gig von seinen mate­ri­el­len Reich­tü­mern, etwas zu verschen­ken: seine Zeit, seine Zuwen­dung, seine Anteil­nah­me; und er wird im Augen­blick belohnt, verzö­ge­rungs­frei, in sozia­ler Echtzeit!

Du, Leser, aber sei gewarnt: ein wenig auch deshalb, weil Du Dich nicht ändern musst, wird Dich dieses Buch verän­dern! Unüber­hör­bar klingt Dir das „tua res agitur“ im Ohr. Auf jeder Seite spürst Du: Du bist gemeint, um Deine Sache, Dein Leben, Dein Glück wird verhan­delt! Alle jene seien also gewarnt, die sich partout nicht ändern mögen, sich nicht stören und verstö­ren lassen!

Denn so ist das mit Büchern, die dem Leser nur sagen, was er eigent­lich längst selber weiß, weil sie sagen, was an der Zeit ist! Gerade so, wie Rilke es im Anblick des „Achäi­schen Torso Apol­los“ empfand: „… denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern“. 

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