2014: Das Jahr der Geldwende – Norbert Rost

Als 2011 die Bundes­re­gie­rung und die Medien unter dem Eindruck Fuku­shi­mas eine Ener­gie­wen­de zur Staats­auf­ga­be erklär­ten, fielen wir mit unse­rem Ener­gie­wen­de­ver­ein in ein tiefes Loch. Unsere zur Vereins­grün­dung 2009 selbst­ge­setz­te Aufga­be, eine Ener­gie­wen­de herbei­zu­ar­gu­men­tie­ren, löste sich plötz­lich in Luft auf. Der schwer­fäl­li­ge Staats­tan­ker hatte uns völlig uner­war­tet über­holt und unsere von Enthu­si­as­mus getrie­be­ne Aufga­be zu seiner eige­nen gemacht. Wir fühl­ten uns aufga­ben- und orien­tie­rungs­los, zumal niemand um unsere Mitar­beit bei der neuen Mammut­auf­ga­be gebe­ten hatte.

Eine vergleich­ba­re Para­ly­se ist in der geld­re­for­me­ri­schen Bewe­gung auszu­ma­chen, seit­dem die EZB im Juni 2014 erst­mals in der neue­ren Geschich­te Gutha­ben­ge­büh­ren auf Über­nacht-Einla­gen der Geschäfts­ban­ken erhob. Auch wenn die von den Jour­na­lis­ten „Nega­tiv­zins“ genann­te Rege­lung bei gerade mal ‑0,2 % liegt, ist vor allem die psycho­lo­gi­sche Wirkung des Durch­bre­chens der Null­li­nie enorm. In allen großen und klei­nen Gazet­ten wird über diesen Schritt und seine vorder­grün­di­gen Auswir­kun­gen berich­tet, wenn­gleich meist mit ableh­nen­dem Unter­ton und einem Gefühls­spek­trum zwischen Verun­si­che­rung und Angst. Geld, das sich nicht mehr selbst vermehrt, sondern im Fall der Nicht­nut­zung schmilzt – das empört die deut­sche Krämer­see­le. Und auch wenn vorerst nur Skat- und Commerz­bank (die bis zu diesem histo­ri­schen Moment wohl nur selten im selben Atem­zug genannt wurden) nur profes­sio­nel­le Geld­ver­wal­ter mit Über­norm-Liqui­di­tät diesem Affront ausset­zen, so spürt der spar­sa­me Michel die Geld­fres­ser­rau­pe näher kommen.
Erstaun­lich – und auch wieder nicht – ist die Erstar­rung jener, die seit Jahren und Jahr­zehn­ten Geld­hal­te­ge­büh­ren auf Geld fordern, um das Zins­ni­veau zu senken, den Geld­fluss zu verste­ti­gen und sich aller­lei Segnun­gen von diesem Instru­ment der Geld­po­li­tik erhoff­ten. Müss­ten die Zeitun­gen nicht von wohl­wol­len­den, ermun­tern­den und erklä­ren­den Leser­brie­fen über­quel­len? Müss­ten nicht Kongres­se und Publi­ka­tio­nen die schon binnen weni­ger Monate sicht­ba­ren Wirkun­gen disku­tie­ren und beleuch­ten und anhand der seit Silvio Gesell durch­ge­walk­ten Theo­rien die kommen­den Folge­wir­kun­gen vorhersagen?

Dieser Text soll dazu provo­zie­ren, das geis­ti­ge Loch schnell zu verlas­sen, in das so ein staat­li­ches „Über­ho­len ohne Einzuholen“-Phänomen führen kann. 2014 taucht das euro­päi­sche Währungs­sys­tem erst­mals unter die Null­li­nie und es dürfen sich alle Verfech­ter der Idee eines Unter-Null-Zinses selbst­be­wusst und (dezent) stolz auf die Schul­ter klop­fen: denn zwei­fel­los ist es auch die über 100 Jahre währen­de Geld­re­form­be­we­gung, die es den EZB-Geld­po­li­ti­kern denk­bar (und damit durch­führ­bar) gemacht hat, die Zinsen an einer ersten, aber neur­al­gi­schen Stelle im Währungs­sys­tem unter null Prozent zu senken. Im Grunde sind die Hüter des Geldes damit auf die Seite „der Spin­ner“ gewech­selt, wie die „Creut­zia­ner“ seit langem (insge­heim) beti­telt wurden. Doch wie sagte schon Leopold Kohr zu der Beti­telung als „Spin­ner“:

„Das macht mir gar nichts aus, denn ein Spin­ner dreht ein Spinn­rad. Das ist ein billi­ges Werk­zeug, das wenig Kapi­tal erfor­dert. Es hat ein beschei­de­nes Anwen­dungs­ge­biet, ist unblu­tig und macht Revolutionen.“

Man muss die Bedeu­tung des EZB-Aktes auch von einer wissen­schafts­skep­ti­schen Seite sehen: Der (neben Bitco­in, Havel­blü­te & Co.) wohl moderns­te Akt im Wirt­schafts­le­ben wurde nicht von der etablier­ten Wirt­schafts­wis­sen­schaft vorbe­rei­tet, sondern insbe­son­de­re von Archi­tek­ten, aber auch vielen ande­ren, angeb­lich „fach­frem­den“ Gewer­ken. Nun: Noch sind die von so manchen „Gesel­lia­nern“ vorher­ge­sag­ten Entwick­lun­gen einer „umlauf­ge­si­cher­ten Währung“ nicht einge­tre­ten und mögli­cher­wei­se werden sie es auch nicht in der Form tun, wie es auf manch (naivem?) Wunsch­zet­tel steht. Zumal die ersten zwei vorsich­ti­gen Zins­sen­kungs­schrit­te der EZB noch längst nicht der idea­li­sier­ten „Frei­geld-Idee“ entspre­chen. Erst lang­sam und mit der Träg­heit großer Syste­me entfal­ten die 0,2 % Gutha­ben­ge­bühr auf Über­nacht-Konten eine Wirkung und setzen sich kaska­den­ar­tig in das frak­tio­nier­te Bank­sys­tem fort. Zuerst waren es die Zinsen am Inter­ban­ken­markt, die der „Einla­ge­fa­zi­li­tät“ hinter­her­tauch­ten. Der EONIA-Index, der die Zinsen abbil­det, zu denen sich Banken unter­ein­an­der Geld über Nacht leihen, steht derzeit bei ‑0,019 %.

Die nächs­te System­re­ak­ti­on war die Ankün­di­gung von „Nega­tiv­zin­sen“ auf Kurz­frist-Konten großer Unter­neh­men wie Luft­han­sa und E.ON, die Anfang Okto­ber öffent­lich wurde. Dann war es die kleine Thürin­gi­sche Skat­bank, bei der zufäl­lig (oder nicht) der Redak­teur der „Huma­nen Wirt­schaft“ als großer Skat-Fan sein Konto führt, die auf Tages­geld-Volu­men größer 500.000 Euro Gutha­ben­ge­büh­ren einführ­te (sofern der Anspruch­neh­mer insge­samt über 3 Millio­nen Euro an Einla­gen verfügt). Zuletzt waren es Commerz­bank und die WGZ-Bank, die Vergleich­ba­res für große, kurz­fris­tig gehal­te­ne Gutha­ben ankün­dig­ten; sowie der Links­par­tei-Chef Bernd Riex­in­ger, der den Gesetz­ge­ber gegen die „Spar­buch-Steuer für die klei­nen Leute“ in Gang setzen möchte und die um sich grei­fen­de Gutha­ben­ge­bühr mit Wucher­zin­sen auf Dispo-Kredi­te verglich. 

Ins „Nega­tiv­zins­sys­tem“ einge­bun­den also bislang: EZB, Geschäfts­ban­ken, Groß­geld­ver­wal­ter und Groß­un­ter­neh­men. Aus der Theo­rie ableit­bar wage ich die Vorher­sa­ge: Die Volu­men­gren­zen werden sukzes­si­ve sinken, die Zahl der Einbe­zo­ge­nen entspre­chend stei­gen. Das allge­mei­ne Zins­ni­veau schrumpft hinter­drein und die Banken werden neue Produk­te mit länger laufen­den Fris­ten, Raten­zah­lungs­pro­duk­te und Spar-Kredit-Kombi-Produk­te anbie­ten. Die Diskus­si­on um ein Bargeld­ver­bot wird von inter­es­sier­ter Seite bereits geführt und wird (vorerst theo­re­tisch) Über­le­gun­gen zu eine Bargeld­re­form beför­dern. Wie der Verruf von Euro-Bargeld-Serien ablau­fen kann hat die EZB seit Mai 2013 mit der Erneue­rung der 5‑Euro-Noten erfolg­reich erprobt. Andere refor­me­ri­sche Ideen werden zuneh­mend disku­tiert, vor allem der Voll­geld­an­satz und der Währungs­wett­be­werb, insbe­son­de­re wenn das sinken­de Zins­ni­veau die Finanz­bran­che in eine ähnli­che Bredouil­le bringt, wie das EEG die Ener­gie­ver­sor­ger: Die Gewin­ne werden schrump­fen, eine ganze Bran­che wird sich ange­sichts eines sich verän­dern­den ökono­mi­schen Flui­dums neu erfin­den müssen (natür­lich nicht ohne zuvor noch­mal Heer­scha­ren von Lobby­is­ten in Bewe­gung gesetzt zu haben, die durch­aus Erfolg haben können). Eine Ackermann’sche Eigen­ka­pi­tal­ren­di­te von 25 % könnte rück­bli­ckend als Kurio­sum längst vergan­ge­ner Wachs­tums­zei­ten gelten.

Verges­sen wir aber nicht, was diesen muti­gen, aber in der Praxis eben noch uner­prob­ten Schritt der EZB ausge­löst hat: Eine seit 2007 schwe­len­de Welt­fi­nanz­kri­se, die in einem Umfeld von Nahe-Null-Wirt­schafts­wachs­tums­ra­ten in den gesät­tig­ten Indus­trie­na­tio­nen statt­fin­det, die in einem seit den 1970ern stagnie­ren­den Pro-Kopf-Ener­gie-Ange­bot Gren­zen des Wachs­tums spüren. Nur weil die EZB „nega­tiv geht“, wie das Grego­ry Mankiw 2009 so schön formu­lier­te und in seinem Blog darauf­hin auf den Chiem­gau­er als exis­tie­ren­des Praxis­bei­spiel verwies, heißt das noch lange nicht, dass unser in ener­gie­ex­pan­die­ren­den Zeiten gewach­se­nes Wirt­schafts- und Gesell­schafts­sys­tem auf alle Heraus­for­de­run­gen vorbe­rei­tet ist. Viel­mehr gilt: Genau wie in der staat­lich gelenk­ten Ener­gie­wen­de uner­war­te­te (?) Proble­me auftauch­ten, wird wohl auch die Geld­wen­de Über­ra­schun­gen parat halten. Kriti­sche Mitden­ker und Mitma­cher wird es zwei­fel­los selbst dann brau­chen, wenn die EZB auch ihre ande­ren Leit­zin­sen in Rich­tung Post­wachs­tum schickt. 

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