Negative Zinsen – Angriff auf das Sparen? – Eckhard Behrens

Die Euro­päi­sche Zentral­bank (EZB) arbei­tet mit drei Zins­sät­zen, die zuein­an­der im Zeit­ver­lauf wech­seln­de Abstän­de haben. Der mitt­le­re ist als der Leit­zins bekannt und neuer­dings nomi­nal kaum noch über null Prozent, nämlich seit Septem­ber 2014 genau 0,05 %. Er wurde von der EZB schritt­wei­se gesenkt, um die Konjunk­tur zu fördern. Weil jedoch die Infla­ti­ons­ra­ten noch stär­ker sanken, ist dieser wich­tigs­te Zins real gestiegen. 

Rein sprach­lich ist die Bewe­gung nega­ti­ver Real­zin­sen schwer zu fassen, weil sie aus den ihrer­seits beweg­li­chen Nomi­nal­zin­sen und Infla­ti­ons­ra­ten errech­net werden muss. Sie stei­gen, wenn sie weni­ger nega­tiv werden, wenn also die Zahl hinter dem Minus­zei­chen klei­ner wird, der Zins sich also von unten der Null­li­nie nähert. Das war in den letz­ten zwei Jahren der Fall. Die Wirkung auf die schon lange schwä­cheln­de Konjunk­tur im Euro­raum ist verhee­rend. Der EZB-Präsi­dent Draghi will daher alles tun, um die Infla­ti­ons­ra­ten wieder in die Nähe des Infla­ti­ons­ziels („unter, aber nahe zwei Prozent“) anzu­he­ben. Das würde auf die Konjunk­tur als reale Leit­zins­sen­kung wirken.

Der unters­te der drei EZB-Zins­sät­ze ist der Einla­gen­zins und diesen hat sie neuer­dings nega­tiv fest­ge­setzt und kurz darauf sogar weiter in den nega­ti­ven Bereich gedrückt, nämlich seit Septem­ber 2014 auf ‑0,2 %. Die Aufre­gung unter den priva­ten und profes­sio­nel­len Sparern und Anle­gern hat sich immer noch nicht gelegt. Das deutet auf ein Schock­erleb­nis aller am Kapi­tal­markt Betei­lig­ten hin. Es gibt vor allem wilde Speku­la­tio­nen, was die Sparer von ihren Banken noch alles zu erwar­ten haben. Jeder kann das in der Presse täglich verfol­gen. Offen­bar hat selbst die gute Wirt­schafts­pres­se großen­teils die Orien­tie­rung verlo­ren und bauscht die aufge­brach­ten Gefüh­le weiter auf.

Wer klaren Kopf bewah­ren will, sollte zunächst zur Kennt­nis nehmen, dass die EZB mit den nega­ti­ven Einla­gen­zin­sen anstrebt, die Banken dazu zu bewe­gen, dass sie ihre liqui­den Mittel nicht weiter­hin über Nacht bei der EZB auf das Einla­gen­kon­to über­wei­sen, sondern dass sie diese Mittel möglichst an die Real­wirt­schaft auslei­hen, notfalls über Nacht an andere Banken verlei­hen. Auslei­hun­gen der Banken an die Real­wirt­schaft erfol­gen kurz‑, mittel- und lang­fris­tig für Lager‑, Maschi­nen- oder Gebäu­de­inves­ti­tio­nen. Die EZB will die Banken insge­samt also zur Fris­ten­trans­for­ma­ti­on bewe­gen und sie unter­stützt das auch noch mit der Zusage, die kurz­fris­ti­gen Zinsen über lange Zeit nicht anzu­he­ben. – Die Fest­set­zung nega­ti­ver Einla­gen­zin­sen hatte den ange­streb­ten Erfolg: Die Einla­gen der Banken bei der EZB verrin­ger­ten sich in kurzer Zeit um 80 %. Wieviel davon nur bei ande­ren Banken und wie viel letzt­lich in der Real­wirt­schaft ange­kom­men ist, hat wohl noch niemand ermit­teln können. Aber das ist sicher nur eine Frage der Zeit.

Natür­lich ist es para­dox, dass die EZB die Banken über­reich­lich mit Liqui­di­tät versorgt hat – demnächst auch noch Anlei­he­käu­fe hinzu­fü­gen will – und nun darauf hinwir­ken muss, dass die Banken nicht in der (fast schon aufge­dräng­ten) Liqui­di­tät verhar­ren, sondern in Anla­ge­for­men gehen, die länge­re Bindung mit sich brin­gen. Norma­ler­wei­se veran­las­sen die Zins­dif­fe­ren­zen zwischen liqui­den und weni­ger liqui­den Anla­ge­for­men alle Geld­ver­mö­gens­be­sit­zer (Priva­te, Banken, Versi­che­run­gen und andere Fonds), ihren „Hang zur Liqui­di­tät“ (Keynes) zu über­win­den und die letz­te­ren zu wählen. Zurzeit sind diese Zins­dif­fe­ren­zen jedoch vergleichs­wei­se gering. Es ist daher beson­ders wich­tig, dass „am kurzen Ende“ der Zins­struk­tur­kur­ve Verlus­te entste­hen. Verlus­te moti­vie­ren stär­ker zu einer Verhal­tens­än­de­rung als Gewinn­an­rei­ze. Nega­ti­ve Nomi­nal­zin­sen wirken stär­ker als gleich hohe nega­ti­ve Real­zin­sen; der Infla­ti­ons­ver­lust wird nicht so deut­lich wahr­ge­nom­men wie die meis­tens immer noch leicht posi­ti­ven Nomi­nal­zin­sen. Das erklärt die große Aufre­gung um das immer noch neue Phäno­men nega­ti­ver Nominalzinsen. 

Wo Bilan­zen erstellt werden, wie bei den großen Geld­ver­mö­gens­be­sit­zern, z. B. den Lebens­ver­si­che­rern, werden Nomi­nal­zin­sen gebucht, ohne eine Infla­ti­ons­be­rei­ni­gung vorzu­neh­men. Posi­ti­ve Nomi­nal­zin­sen erschei­nen als Ertrag, nega­ti­ve als Verlust. Es ist daher nicht verwun­der­lich, dass die Geschäfts­ban­ken sich durch die nega­ti­ven Einla­gen­zin­sen der EZB ihrer­seits gedrängt fühlen, ihren Groß­kun­den für täglich fälli­ge Einla­gen eben­falls nega­ti­ve Zinsen zu berech­nen. Sie haben bei der gegen­wär­tig sehr flachen Zins­struk­tur­kur­ve auch bei gewag­ten Fris­ten­trans­for­ma­tio­nen keine ausrei­chend großen Zins­span­nen, um die Verlus­te ihrer Einla­gen bei der EZB sicher ausglei­chen zu können. Die Ausbrei­tung der nega­ti­ven Einla­gen­zin­sen lässt über­all die Alarm­glo­cken klin­gen und die Notwen­dig­keit erken­nen, gewohn­te Bequem­lich­kei­ten der Geld­an­la­ge zu über­prü­fen. Das ist wich­tig als Vorübung für das, was aus gesamt­wirt­schaft­li­chen Grün­den kommen muss, nämlich noch deut­lich nega­ti­ve­re Zinsen für kurz­fris­ti­ge Geldanlagen. 

Das Ärger­lichs­te an der gegen­wär­ti­gen öffent­li­chen Diskus­si­on ist die Darstel­lung der EZB-Poli­tik als Angriff auf die klei­nen Sparer oder das Sparen über­haupt. Es geht nicht um Sparen oder Konsum. Es soll weiter gespart werden, weil es volks­wirt­schaft­lich sinn­voll ist, das Kapi­tal zu vermeh­ren, so lange es (noch) knapp ist – gemes­sen an den Zinsen für lang­fris­ti­ge Ersparnisse/Geldanlagen. Es geht nur um das Anla­ge­ver­hal­ten der Geld­ver­mö­gens­be­sit­zer – der großen und der klei­nen. Dabei geht es auch nicht in erster Linie um das Zurück­drän­gen der Geld­ver­mö­gens­an­la­gen zuguns­ten von Sach­ver­mö­gens­an­la­gen (Immo­bi­li­en, Aktien). Die Sparer sollen auch nicht ange­regt werden, höhere Risi­ken durch den Kauf zwei­fel­haf­ter Anlei­hen zu übernehmen. 

Der norma­le Sparer soll durch nega­ti­ve Zinsen veran­lasst werden, sein einzel­wirt­schaft­li­ches Verhal­ten besser mit dem gesamt­wirt­schaft­li­chen Inter­es­se an vermehr­ten kurz‑, mittel- und lang­fris­ti­gen Kredi­ten an Unter­neh­men zu koor­di­nie­ren. Damit die Banken solche Unter­neh­mens­kre­di­te geben können, müssen sie selbst die Mittel von den Sparern anders bekom­men als bisher üblich. Die Erspar­nis­se sollen nicht in so hohem Maße wie bisher als täglich fälli­ge Gutha­ben (liqui­de) ange­legt werden, sondern mit so langen Zeit­ho­ri­zon­ten, wie die wirk­li­chen Spar­zie­le der Sparer sind. Damit die Sparer ihren Hang zur Liqui­di­tät über­win­den, müssen nega­ti­ve Zinsen für kurz­fris­ti­ge Anla­gen sie anhal­ten, dort nur so viel anzu­le­gen, wie sie wirk­lich kurz­fris­tig greif­bar haben müssen, und alles andere auf länge­re (Kündi­gungs-) Frist in die Hand der Banken zu legen. Dann können diese die Erspar­nis­se ohne nennens­wer­te Fris­ten­trans­for­ma­ti­on in mittel- und lang­fris­ti­ge Unter­neh­mens­kre­di­te umwan­deln. – Die Banken­auf­sicht wird ein riesi­ges Problem los. Denn über­mä­ßi­ge Fris­ten­trans­for­ma­ti­on macht die Finanz­märk­te instabil.

Die gerin­gen nega­ti­ven Zinsen, die wir zurzeit haben, mögen bereits ein Umden­ken ansto­ßen, werden aber bei ruhi­ger Abwä­gung kaum genü­gend Moti­va­ti­on bewir­ken, das Verhal­ten beim Umgang mit Erspar­nis­sen ausrei­chend zu ändern. Damit ist zugleich auch ein Fehler in der Kolum­ne von Jakob Augstein im SPIEGEL (Nr. 48 vom 24. 11. 2014, Seite 19) aufge­zeigt, der schon von der viel­fach prognos­ti­zier­ten Weiter­ga­be der aktu­el­len gerin­gen nega­ti­ven Zinsen an die Privat­kun­den erwar­tet: „Die Deut­schen werden sich das Sparen nicht nehmen lassen. Sie werden einen guten Teil jener fantas­ti­schen zwei Billio­nen Euro, die sie bei den Banken depo­niert haben, von ihren Konten abhe­ben, in 500-Euro-Schei­ne wech­seln und nachts im Garten vergra­ben.“ Die Kolum­ne ist im Übri­gen sehr erfreu­lich, weil darin erwähnt wird, dass die Geld­re­form Silvio Gesells dem Horten des Bargelds entge­gen­wirkt. Mit demsel­ben Ziel wolle der bekann­te ameri­ka­ni­sche Ökonom Rogoff das Bargeld gleich ganz abschaf­fen. Die Kolum­ne hat den schö­nen Titel „Kapi­ta­lis­mus kaputt“ und endet damit, dass die schwä­bi­sche Haus­frau mit ihrem Spar­fleiß den Kapi­ta­lis­mus erle­digt, wie es das „Semi­nar für frei­heit­li­che Ordnung“, Bad Boll, in seiner Tagung „Markt­wirt­schaft ohne Kapi­ta­lis­mus“ gerade erst wieder aufge­zeigt hat. 

Ein Schön­heits­feh­ler ist Augsteins Darstel­lung des Zinses als Beloh­nung des Konsum­ver­zichts; so wirkt der Zins nur, solan­ge Kapi­tal knapp ist und zwar sowohl bei dem, der Geld­ver­mö­gen aus Arbeits­ein­kom­men neu bildet, als auch bei dem, der Geld­ver­mö­gen schon (geerbt) hat und seine Zinsen nicht konsu­miert, sondern wieder anlegt, um sein Kapi­tal nach dem Zinses­zins­prin­zip expo­nen­ti­ell zu vermeh­ren. Wenn Kapi­tal nicht mehr knapp ist, wird der Zins nur noch als Steue­rungs­mit­tel der Kapi­tal­strö­me benö­tigt, nicht mehr als Beloh­nung des Konsum­ver­zichts. Der Normal­spa­rer spart dann nur noch, um sein Vorsor­ge­be­dürf­nis abzu­de­cken, das irgend­wo eine Grenze hat. Die über­gro­ßen Geld­ver­mö­gen vermeh­ren sich dann nicht mehr selbst­tä­tig durch Zinses­zins­ef­fek­te; von Zinsen kann dann niemand mehr leben, nur noch vom Kapi­tal­ver­brauch. Davon können wir lang­fris­tig eine gleich­mä­ßi­ge­re Vermö­gens­ver­tei­lung erhof­fen. – So wirkt Marktwirtschaft. 

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