Hat die Europäische Zentralbank ein Tabu gebrochen? – Felix Fuders / Dirk Löhr

Am 5. Juni diesen Jahres redu­zier­te die EZB ihren Refi­nan­zie­rungs­satz für Banken auf 0,15 % und den Einla­ge­satz für Banken auf minus 0,1 %. Am 4. Septem­ber schließ­lich legte die EZB noch einmal drauf: Die Sätze wurden noch einmal auf 0,05 % bzw. auf minus 0,20 % gesenkt.Hat die Euro­päi­sche Zentral­bank damit ein Tabu gebro­chen? Wirft man einen Blick auf die Rede „Life below zero: Lear­ning about nega­ti­ve inte­rest rates“, die von Benoît Cœuré am 9. 9. 2014 in Frank­furt vor der Money Market Cont­act Group gehal­ten wurde (s. Seite 4 in dieser Ausga­be), sieht es fast so aus. Wieder­holt bezieht sich Cœuré auf Silvio Gesell, und sagte, dass die „Idee nega­ti­ver Zinsen zurück­gin­ge auf das späte 19. Jhd. zu Silvio Gesell”. Cœuré ist Mitglied des Execu­ti­ve Boards der EZB. Seine Rede ist die eines Zentral­ban­kers, der nach­denk­lich gewor­den und neue Wege zu beschrei­ten bereit ist.

Silvio Gesells Idee war es, dem Bargeld Durch­hal­te­kos­ten aufzu­er­le­gen, damit dieses nicht unbe­grenzt gehor­tet werden kann. Dafür soll­ten z. B. Gebüh­ren­mar­ken in regel­mä­ßi­gen Zeit­ab­stän­den auf Geld­schei­ne geklebt werden müssen, damit diese ihren Wert erhal­ten. Um Gesells Vorschlag zu verste­hen, muss man sich verge­gen­wär­ti­gen, dass Geld in unse­rem heuti­gen Finanz­sys­tem zwei sich wider­spre­chen­de Funk­tio­nen erfül­len soll. Einer­seits ist Geld ein Tausch­mit­tel, es soll den Austausch von Gütern erleich­tern (so bereits Aris­to­te­les). Ande­rer­seits lesen wir in Lehr­bü­chern, dass Geld auch die Funk­ti­on eines Wertauf­be­wah­rungs­mit­tels erfüllt. Silvio Gesell erkann­te, dass aus diesem Wider­spruch die regel­mä­ßig wieder­keh­ren­den Finanz­kri­sen entste­hen. Wenn nämlich Menschen ihr Geld unter dem Kopf­kis­sen horten, so kann es nicht gleich­zei­tig als Tausch­mit­tel fungie­ren. Wenn viele Menschen ihr Geld zu Hause aufbe­wah­ren, so fehlt dieses im Wirt­schafts­kreis­lauf, die Nach­fra­ge sinkt, Preise sinken, es entsteht Defla­ti­on. Wenn Preise sinken, ist der Anreiz, das Geld lieber später als heute auszu­ge­ben noch größer, was die Tendenz zum Horten noch stärkt. Selbst gesun­de Unter­neh­men müssen die Produk­ti­on dros­seln oder ganz still­le­gen, weil kaum noch etwas gekauft wird. Die Arbeits­lo­sig­keit steigt. Eine Abwärts­spi­ra­le mit schlim­men Folgen kommt in den Gang.

Die Tatsa­che, dass sich ein Mitglied des EZB-Direk­to­ri­ums bei der Kommen­tie­rung der histo­ri­schen Entschei­dung, nega­ti­ve Einla­gen­zin­sen fest­zu­le­gen, auf Silvio Gesell bezieht, ist viel­leicht noch bemer­kens­wer­ter als die Tatsa­che selbst, dass die EZB erst­mals einen nega­ti­ven Zins­satz für Einla­gen verhängt hat. Tatsäch­lich hat eine solche „Park­ge­bühr“ für Gelder, die Geschäfts­ban­ken bei der Zentral­bank depo­nie­ren, Ähnlich­keit mit dem Vorschlag Gesells. Vor diesem Hinter­grund hat die Rede Cœurés, die sich ausdrück­lich auf Gesell bezieht, bei manch kriti­schem Betrach­ter des heuti­gen Geld­we­sens viel­leicht neue Hoff­nun­gen erweckt; Hoff­nun­gen, dass die EZB nun auf den Kurs von Gesell einschwen­ken könnte.

Bei nähe­rem Hinse­hen wird aller­dings deut­lich, dass derzeit noch kein Grund für einen Freu­den­tau­mel besteht: Zunächst wird eine Belas­tung des umlau­fen­den Bargel­des durch Cœuré über­haupt nicht thema­ti­siert. Er hält das Problem offen­bar allein deswe­gen schon für gelöst, weil beim Zahlungs­ver­kehr Trans­ak­ti­ons­kos­ten anfal­len. Cœuré über­sieht jedoch dabei, dass die von Gesell und im Übri­gen auch von Keynes befür­wor­te­ten Durch­hal­te­kos­ten, die dem Geld seine Funk­ti­on als Wertauf­be­wah­rungs­mit­tel nehmen sollen, einen ande­ren Charak­ter haben als die von Cœuré ange­führ­ten Trans­ak­ti­ons­kos­ten, welche im Kontext der Tausch- und Zahlungs­mit­tel­funk­ti­on entstehen.
Ebenso wenig werden die Sicht­ein­la­gen bei priva­ten Geschäfts­ban­ken erwähnt, die zumin­dest beim derzei­ti­gen Einla­gen­satz von minus 0,20 % noch so gut wie über­haupt keine Weiter­be­las­tung erfah­ren. Zwar erhe­ben bereits einige Banken „Straf­zin­sen“ auf Einla­gen der Geschäfts­kun­den und in einem Fall, nament­lich der Skat-Bank, auch auf Einla­gen im Privat­kun­den­ver­kehr, die 500.000 € über­schrei­ten. Trotz der Straf­zin­sen, die Geschäfts­ban­ken nun für Einla­gen bei der EZB zahlen müssen, wird den Banken aber vorge­hal­ten, sie würden das Geld lieber bei der EZB parken, anstel­le Kredi­te zu verge­ben. Das Handels­blatt titel­te jüngst: „Banken ertrin­ken im Geld – Zum ersten Mal in der Geschich­te der Bundes­re­pu­blik über­stei­gen die Einla­gen die ausge­reich­ten Kredi­te“. Von einem allge­mei­nen Nega­tiv­zins auf Giral­geld sind wir also noch weit entfernt. Das gilt umso mehr, wenn man die posi­ti­ven Liqui­di­täts­prä­mi­en betrach­tet, die selbst im ertrags­lo­sen Zustand (wie auch bei Bargeld) noch zu einem deut­lich posi­ti­ven Eigen­zins­satz (Keynes) führen.

Die Nied­rig­zins­po­li­tik findet derzeit am kurzen Ende des Geld- und Kapi­tal­mark­tes statt. Am langen Ende sind die Zinsen durch­aus noch deut­lich sicht­bar und können nicht nur durch Arbeits- und Risi­ko­kos­ten der Kredit­in­sti­tu­te begrün­det werden, wie dies Cœuré tut. Selbst, wenn die Zentral­bank dazu über­geht, auch mit dem Refi­nan­zie­rungs­satz in einen deut­lich nega­ti­ven Bereich zu gehen, ändert sich hieran nichts. Der Grund hier­für ist, dass die Liqui­di­täts­prä­mie des Geldes nicht „auto­ma­tisch“ durch die groß­zü­gi­ge Emis­si­ons­po­li­tik der Zentral­bank verschwin­den wird. Sie kommt im Geld­ver­kehr zwischen Priva­ten wieder zum Vorschein. Die Park­ge­bühr für das Bunkern von Geldern der Geschäfts­ban­ken bei der EZB müsste daher so hoch sein, dass Banken auf alle Sicht­ein­la­gen ihrer Kunden Gebüh­ren erhe­ben und Kredi­te kosten­los wären. Leider wird die 0,20 % Gebühr auf Einla­gen, die Geschäfts­ban­ken bei der Euro­päi­schen Zentral­bank halten, wohl kaum genug Druck ausüben, um den Zins­satz, den Privat­kun­den bei ihren Banken für Kredi­te zahlen, gegen null tendie­ren zu lassen. Die Art und Weise wie die EZB die Idee Silvio Gesells derzeit umsetzt, wird also sehr wahr­schein­lich nicht die Proble­me unse­res Finanz­sys­tems lösen. Es besteht aller­dings die Gefahr, dass man nach einem Zusam­men­bruch des Finanz­sys­tems sagen wird: Schaut her, Silvio Gesells Idee hat auch nicht funktioniert.

Im Übri­gen vermisst man in der Rede Cœurés Gedan­ken über das Zusam­men­spiel zwischen Geld­um­lauf­si­che­rungs­ge­bühr bzw. “Nega­tiv­zins” und der Eigen­tums­ord­nung, wie sie für Gesell und auch für Keynes eine hohe Bedeu­tung hatten: Ist ein “Nega­tiv­zins” bei einem posi­ti­ven Eigen­zins­satz (Keynes) von Land und Natur (im Privat­ei­gen­tum) über­haupt möglich? Oder stehen Arbi­tra­ge­pro­zes­se dage­gen, die das Geld v. a. in Immo­bi­li­en und Aktien schwap­pen lassen? Der Boden­wert ergibt sich nähe­rungs­wei­se aus der Boden­ren­te, divi­diert durch den (Real-) Zins­satz; der Unter­neh­mens­wert aus der ökono­mi­schen Rente des Unter­neh­mens, divi­diert durch den (Real-) Zins­satz. Welches sind die Auswir­kun­gen einer “Nega­tiv­zins­po­li­tik” auf Asset­preis­in­fla­tio­nen, v. a. auf den Immo­bi­li­en- und Akti­en­märk­ten? Kommt es zu einer Vermö­gens­preis­explo­si­on, die z. B. Wohnen uner­schwing­lich werden lässt? An dieser Stelle wäre es schön gewe­sen, von Cœuré ein Wort darüber zu hören, dass die Nied­rig­zins­po­li­tik der EZB durch eine Poli­tik der Abschöp­fung der ökono­mi­schen Renten im Euro­raum beglei­tet werden sollte.

Es bleibt also fest­zu­hal­ten: Die Rede von Cœuré ist ein gewal­ti­ger gedank­li­cher Sprung und könnte der Vorbo­te eines Para­dig­men­wech­sels der EZB sein. Die derzei­ti­ge Poli­tik der EZB ist aller­dings noch weit weg von der Blau­pau­se, die Silvio Gesell vorschweb­te. Warten wir also ab, was da noch folgt.

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