Leben unter Null – Rede von Benoît Cœuré

Leben unter Null

Über nega­ti­ve Zinsen lernen
Rede von Benoît Cœuré
Über­set­zung: Andre­as Bangemann

Die Rede im Origi­nal (in Englisch) ist auf der Websei­te der EZB zu finden: http://www.ecb.europa.eu/press/key/date/2014/html/sp140909.en.html

Benoît Cœuré ist Mitglied des Direk­to­ri­ums der EZB. Er hielt diese Rede auf dem jähr­li­chen Abend­essen der EZB-Geld­markt­kon­takt­grup­pe in Frank­furt am Main am 9. Septem­ber 2014.

Am 5. Juni 2014 senkte die EZB den Haupt­re­fi­nan­zie­rungs­satz (Leit­zins) auf 0,15 %, den Spit­zen­re­fi­nan­zie­rungs­satz auf 0,40 %, und – viel­leicht am bemer­kens­wer­tes­ten – die Einla­ge­fa­zi­li­tät auf minus 0,10 %. Am 4. Septem­ber 2014 wurden diese Sätze auf 0,05 %, 0,30 % und ‑0,20 % gekürzt und es wurde erklärt, dass die untere Grenze nun erreicht sei. Eben­falls im Juni beschloss die EZB, im Gegen­satz zu früher, Einla­gen-Über­schüs­se, welche die Mindest­re­ser­ve-Anfor­de­run­gen an der Einla­gen­fa­zi­li­tät über­stei­gen nega­tiv zu vergü­ten. Mit diesen Maßnah­men betra­ten wir prak­tisch Neuland.

Als Grego­ry Mankiw 2009 in der New York Times fest­stell­te, dass „es an
  der Zeit sein könnte […] ins Nega­ti­ve zu gehen“, beleb­te er eine Idee, die auf den ersten Blick selt­sam vorkommt. Wenn Zins­sen­kun­gen die Wirt­schaft stimu­lie­ren und die Leit­zin­sen bereits sehr nied­rig oder sogar null sind, warum dann nicht die Zinsen weiter senken und zu nega­ti­ven Raten kommen? Die Idee der nega­ti­ven Zinsen, was bedeu­tet, man verleiht 100 und bekommt 95 zurück, mag absurd schei­nen, aber denken Sie daran: Die frühen Mathe­ma­ti­ker fanden die Idee nega­ti­ver Zahlen eben­falls absurd.
In der Tat, die Idee der nega­ti­ven Zinsen oder „Besteu­er­tes Geld“, geht zurück auf das späte neun­zehn­te Jahr­hun­dert, auf Silvio Gesell, der deut­sche Begrün­der der „Frei­wirt­schaft“. Die histo­ri­sche wissen­schaft­li­che Meinung über Gesell ist geteilt. Irving Fisher unter­stütz­te ihn und John Maynard Keynes nannte ihn „einen selt­sa­men, zu Unrecht vernach­läs­sig­ten Prophe­ten“, andere einen „typi­schen mone­tä­ren Sonderling“.

Also, wo stehen wir in der Euro­zo­ne? Ich möchte heute diese Frage beant­wor­ten, indem ich mich folgen­den Punk­ten widme:

Was bedeu­tet es, einen unse­rer Leit­zin­sen, die Einla­ge­fa­zi­li­tät, unter Null zu haben?
Warum gingen wir dabei ins Negative?
Was sind die grund­sätz­li­chen Kosten und Nutzen eines solchen Schrittes?
Und wie zeich­net sich, mit dem Vorteil eines Rück­blicks seit Juni, die erste Bilanz ab?

Zunächst ist es wich­tig, darauf hinzu­wei­sen, dass die Einla­gen­fa­zi­li­tät eine bestimm­te, enge Bedeu­tung hat: Unter einem nega­ti­ven Einla­gen­zins verlie­ren Banken, die auf ihrem Konto bei der EZB mehr Geld haben als das, was sie brau­chen, um ihren Mindest­re­ser­ve-Erfor­der­nis­sen nach­zu­kom­men, etwas Geld. Nehmen wir zum Beispiel an, dass eine Bank Über­schuss­re­ser­ven in Höhe von 100 Millio­nen Euro konti­nu­ier­lich über ein Jahr bei der EZB hat, dann bekommt sie bei einem Zins­satz von ‑0,20 % am Jahres­en­de 99,8 Millio­nen zurück, so dass die Kosten für die Einla­ge bei der EZB für ein ganzes Jahr 200.000 € sind.

Warum akzep­tie­ren Banken solche Kosten für die Anlage über­schüs­si­ger Reser­ven bei der Zentral­bank? Die Antwort ist, dass die Alter­na­ti­ven zur Anlage der Über­schuss­re­ser­ven eben­falls teuer sind. Tatsäch­lich bestim­men die Kosten für die alter­na­ti­ve Nutzung der Zentral­bank­ein­la­gen, inwie­weit der Zins­satz für Über­schuss­re­ser­ven in der Praxis nega­tiv werden kann.

Banken können immer wählen, ob sie die physi­sche Währung anstel­le elek­tro­ni­scher Gutha­ben bei der EZB halten wollen. Da die physi­sche Währung eine Nomi­nal­ren­di­te von Null hat, gibt es etwas für die Rate an Über­schuss­re­ser­ven, was ich „Wirt­schafts­un­ter­gren­ze“ nennen würde. Es ist nur schwer zu erken­nen, aber die Nomi­nal­ren­di­te ist nicht Null, da die effek­ti­ve Rendi­te der physi­schen Währung tatsäch­lich nega­tiv ist. Man braucht nicht einmal eine Demur­ra­ge-Rate oder regel­mä­ßi­ges Stem­peln auf Bank­no­ten zu verhän­gen, wie Irving Fischer zurück­ge­hend auf Gesells Idee vorge­schla­gen hat. Es entste­hen Kosten für die Lage­rung, den Besitz, und – noch wich­ti­ger – für die Nutzung der physi­schen Währung. Dies beinhal­tet die Kosten für die Anmie­tung, Wartung und Siche­rung der Lager­ein­rich­tun­gen, wie Tresor­räu­me, sowie die Kosten für den Trans­port der Währung in siche­rer und zeit­ge­mä­ßer Weise. Eine kürz­lich durch­ge­führ­te EZB-Studie schätzt die priva­ten Kosten von Barzah­lun­gen auf durch­schnitt­lich 1,1 % des BIP in den teil­neh­men­den Ländern. Die sozia­len Grenz­kos­ten (jene, die in der gesam­ten Wirt­schaft anfal­len [Anm. d. Red.]) wurden auf 2,3 Cent pro Euro der Trans­ak­ti­on geschätzt. Dies ist pro Euro der Trans­ak­ti­on wesent­lich höher als die sozia­len Grenz­kos­ten einer Über­wei­sung oder ande­rer bargeld­lo­sen Zahlun­gen. Da der unge­si­cher­te Tages­geld­markt allein Hunder­te von Banken, mit einem Gesamt­trans­ak­ti­ons­vo­lu­men von ca.
40–50 Mrd. € täglich beinhal­tet, würde das Ausmaß dieser Trans­ak­tio­nen mit physi­schem Geld eine gewal­ti­ge und kost­spie­li­ge Aufga­be sein, sowohl privat als auch gesellschaftlich.

Ich würde nicht so weit gehen wie Kenneth Rogoff und den Schluss ziehen, dass bei ausschließ­li­chem Vorhan­den­sein von elek­tro­ni­schem Geld (Abschaf­fung des Bargelds [Anm. d. Red.]) durch Herun­ter­drü­cken der wirt­schaft­li­chen Unter­gren­ze Spiel­raum für die Noten­ban­ken geschaf­fen würde, um in ein lang­an­hal­ten­des Umfeld nied­ri­ger Infla­ti­on zu gelan­gen. Die EZB hat sich dem Ziel verpflich­tet, die Infla­ti­on im Euro­raum wieder auf ein Niveau unter, aber nahe zwei Prozent zu brin­gen, ganz im Einklang mit ihrem Mandat.

Aber was ist dann der Grund für eine nega­ti­ve Rate der Einla­gen­fa­zi­li­tät? Warum den Über­schuss­re­ser­ven der Banken Kosten auferlegen?

Man sollte die nega­ti­ve Rate im Zusam­men­hang mit dem Ziel der EZB sehen, die geld­po­li­ti­sche Locke­rung weiter zu betrei­ben, unter ande­rem durch eine Senkung der Leit­zin­sen ohne die Markt­in­ter­me­dia­ti­on zu beein­träch­ti­gen. Es gibt eine Reihe von Grün­den, warum es wünschens­wert ist, eine gewis­se Distanz zwischen dem Haupt­re­fi­nan­zie­rungs­satz und den Einla­gen­zin­sen zu halten. Die rela­ti­ve Diffe­renz zwischen den Kosten für die Kredit­auf­nah­me bei der EZB und dem Nutzen der Hinter­le­gung bei der EZB legt den Anreiz, im Inter­ban­ken­markt zu leihen. Einen akti­ven Inter­ban­ken­markt zu haben ist wich­tig, um Preis­si­gna­le zur Über­mitt­lung der Leit­zin­sen in die Wirt­schaft zu senden. Es ist auch wich­tig, um die über­mä­ßi­ge Abhän­gig­keit der Banken von Zentral­bank­geld zu redu­zie­ren, was ein Schlüs­sel­fak­tor der Wider­stands­fä­hig­keit im Nach­kri­sen-Umfeld gewe­sen ist.

In den Worten von Micha­el Wood­ford, „die Nach­fra­ge nach ([Anm. d. Red.:] Inter­ban­ken-) [Tages­gel­dern] ist eine Funk­ti­on der Posi­tio­nie­rung des Tages­geld­sat­zes in Bezug auf den Kredit- und des Einla­gen­zins­satz, aber unab­hän­gig von der abso­lu­ten Höhe einer dieser Zinssätze.“

Um die Rolle des rela­ti­ven Unter­schieds zu sehen, stel­len Sie sich folgen­des Gedan­ken­ex­pe­ri­ment vor. Aus Grün­den der Argu­men­ta­ti­on, lassen Sie mich vom Kredit­ri­si­ko des Tages­geld­markts abse­hen und davon ausge­hen, dass es genü­gend noten­bank­fä­hi­ge Sicher­hei­ten gibt, um von der EZB zu leihen. Folg­lich gäbe es keinen wesent­li­chen Unter­schied zwischen sehr kurz­fris­tig besi­cher­ten und unbe­si­cher­ten Anlei­hen und Darle­hen. Banken mit Über­schuss­re­ser­ven würden im Inter­ban­ken­markt nur mit einer Zinsatz verlei­hen, der über dem Einla­gen­satz der EZB liegt, Banken mit einem Mangel an Reser­ven nur mit einem Zins­satz, der unter dem Haupt­re­fi­nan­zie­rungs­satz liegt. Nehmen wir nun an, dass der Haupt­re­fi­nan­zie­rungs­satz gleich der Einla­gen­satz ist. Damit gibt es keine Rate, die den Handel möglich macht. Um Markt­ak­ti­vi­tä­ten zu unter­stüt­zen, ist es daher wich­tig, einen Abstand zwischen dem Haupt­re­fi­nan­zie­rungs- und dem Einla­gen­satz zu halten.

Ein weite­rer Vorteil der Senkung des Einla­gen­sat­zes zusam­men mit dem Haupt­re­fi­nan­zie­rungs­satz ist, dass in der gegen­wär­ti­gen Situa­ti­on mit Über­schuss­li­qui­di­tät, kurz­fris­ti­ge Zins­sät­ze wie der „EONIA“ stär­ker durch den Einla­gen­satz beein­flusst werden als durch den Haupt­re­fi­nan­zie­rungs­satz. Das Banken­sys­tem als Ganzes hat derzeit eine Über­schuss­li­qui­di­tät von rund 130 Mrd. €. Wenn die Über­schuss­li­qui­di­tät steigt, fallen die Raten, da weni­ger im Inter­ban­ken­markt ausge­lie­hen werden muss (die Nach­fra­ge­kur­ve verschiebt sich nach unten). Um sicher­zu­stel­len, dass die locke­re Geld­po­li­tik auf dem Inter­ban­ken­markt bei Fest­zins­voll­zu­tei­lung und Über­schuss­li­qui­di­tät ankommt, ist es daher nicht genug, nur den Haupt­re­fi­nan­zie­rungs­satz zu senken. In der Tat kann der Einla­gen­satz in einem Umfeld über­schüs­si­ger Liqui­di­tät der wich­tigs­te Leit­zins der Zentral­bank sein.

Die Entschei­dung über die Zins­sen­kung, die von einer Reihe ande­rer Maßnah­men zur Stimu­lie­rung der Kredit­ver­ga­be an die Wirt­schaft beglei­tet wird, wie „geziel­te“ Lang­zeit­vor­gän­ge (um die Banken dazu zu bewe­gen, mehr an die Real­wirt­schaft zu verlei­hen) und eine Ankün­di­gung der Käufe kapi­tal­ge­si­cher­ter Wert­pa­pie­ren und gedeck­ter Anlei­hen auf der Basis von Ansprü­chen auf die Real­wirt­schaft des Euro-Währungs­ge­biets, ist auch in vollem Einklang mit den zukunfts­ge­rich­te­ten Entschei­dungs­li­ni­en der EZB. Die zukunfts­ge­rich­te­ten Entschei­dungs­li­ni­en (Forward guidance) setzen voraus, dass die Zinsen, abhän­gig von einer Beur­tei­lung der Konjunk­tur­aus­sich­ten, für einen länge­ren Zeit­raum auf dem gegen­wär­ti­gen oder einem nied­ri­ge­ren Niveau bleiben.

Im Anschluss an die Entschei­dung vom Juni wurden die nied­ri­ge­ren Leit­zin­sen auch ange­mes­sen auf den Geld­markt über­tra­gen und – im Einklang mit der Leit­li­nie (forward guidance) – ging die Markt­un­si­cher­heit über die zu erwar­ten­de Entwick­lung der Leit­zin­sen zurück. Die Kurve des
EONIA flach­te vorne ab und wurde nach unten verscho­ben. Darüber hinaus ist die Vola­ti­li­tät der EONIA-Sätze sowie die opti­ons-impli­zier­te Vola­ti­li­tät der kurz­fris­ti­gen Zins­sät­ze gesun­ken. Die nied­ri­ge­ren Leit­zin­sen wurden auch auf länge­re Lauf­zei­ten und auf ande­ren Markt­seg­men­te als den unge­si­cher­ten Geld­markt über­tra­gen. EURIBOR und von EURI­BOR-Termin­ge­schäf­ten beein­fluss­te Zins­ra­ten fielen nach der Entschei­dung vom Juni und noch einmal nach der Entschei­dung im Septem­ber. Unge­si­cher­te Geld­markt­zin­sen sind jetzt für eine Lauf­zeit von bis zu zwei Wochen nega­tiv. Außer­dem wurde sowohl die Gene­ral Colla­te­ral (GC) Pooling Repo-Kurve, als auch die Rendi­ten der Euro­raum-Schatz­brie­fe und ‑Schuld­ver­schrei­bun­gen weiter angepasst.

Der EONIA ist seit dem 28. August regel­mä­ßig im nega­ti­ven Bereich, in Verbin­dung mit stabi­len Handels-Umsät­zen (das durch­schnitt­li­che tägli­che EONIA Handels-Volu­men von Januar bis Juni 2014 lag bei 26,1 Mrd. € und bei 28,9 Mrd. € seit Juni) und der homo­ge­ne Über­tra­gung zu den eng substi­tu­ier­ba­ren Markt­seg­men­ten, wie der GC Pooling Repo, sind Hinwei­se darauf, dass ein großer Teil der unge­si­cher­ten Geld­markt­ge­schäf­te bei nega­ti­ven Prei­sen statt­fin­det, ohne das Funk­tio­nie­ren des Mark­tes zu behin­dern. Dies spie­gelt eine effek­ti­ve und gut koor­di­nier­te Vorbe­rei­tung der Markt­teil­neh­mer wieder, seit die EZB erst­mals die Möglich­keit erwähn­te, den Leit­zins unter Null zu senken.

Die Tatsa­che, dass das Geld­markt­han­dels­vo­lu­men nicht fiel (derzeit steigt es sogar), ist ange­sichts der Befürch­tun­gen, die einige Beob­ach­ter geäu­ßert hatten bemer­kens­wert, wobei sie auf die japa­ni­schen Erfah­run­gen der 1990er Jahre hinsicht­lich der mögli­chen Auswir­kun­gen auf das Funk­tio­nie­ren des Mark­tes bei einem nega­ti­ven Einla­gen­zins und sehr nied­ri­gen Raten im Allge­mei­nen verwiesen.

Wird die Über­tra­gung nied­ri­ge­rer, kurz­fris­ti­ger Zinsen hin zu nied­ri­ge­ren Kredit­kos­ten für die Real­wirt­schaft ebenso reibungs­los verlau­fen? Während sich die Kredit­zin­sen der Banken in der Vergan­gen­heit im Einklang mit nied­ri­gen Leit­zin­sen nach unten beweg­ten, gibt es eine Grenze, wie billig die Kredit­ver­ga­be der Banken werden kann. Den Kalku­la­ti­ons­auf­schlag, den die Banken zu ihren Kosten der Beschaf­fung von Mitteln von der Zentral­bank hinzu­fü­gen gleicht das Kredit­ri­si­ko, Lauf­zeit­prä­mi­en und die Kosten für Herkunft aus, sowie die Prüfung und Über­wa­chung der Kredi­te. Die Notwen­dig­keit für eine solche Entschä­di­gung entfällt nicht unbe­dingt, wenn die Leit­zin­sen sinken. Eher senkt eine Zentral­bank die Zins­ra­ten, wenn die Wirt­schaft einen Stimu­lus braucht, also genau dann, wenn es für die Banken schwie­rig ist, gute Kredit-Gele­gen­hei­ten zu finden. Es bleibt abzu­war­ten, ob und in welchem Ausmaß das derzei­ti­ge geld­po­li­ti­sche Umfeld zu einer güns­ti­ge­ren Kredit­ver­ga­be der Banken führt.

Eine weite­re Sorge bei sinken­den Zinsen ist, dass es zur Insta­bi­li­tät des Finanz­sek­tors kommen könnte. Obwohl diese Sorge berech­tigt sein kann, ist die Kausal­ket­te in der Praxis schwer nach­zu­wei­sen. Führen nied­ri­ge Zinsen wirk­lich zu Insta­bi­li­tät (z. B. wenn ein Über­schuss nach Rendi­te sucht) oder sind die Zinsen nied­rig, weil im Finanz­sys­tem eine Insta­bi­li­tät gewe­sen ist und die Wirt­schaft die Notwen­dig­keit eines Anrei­zes braucht? Das heißt, die Redu­zie­rung über­mä­ßi­ger Risi­ko­aver­si­on an den Finanz­märk­ten ist ein will­kom­me­ner (Neben-) Effekt der Zentral­bank­po­li­tik in der Krise. Die Frage ist, ob die Risi­ko­be­reit­schaft im Finanz­sek­tor nun schon zu weit gegan­gen ist, zu wach­sen­dem finan­zi­el­len Ungleich­ge­wicht, über­schäu­men­der Vermö­gens­preis­be­wer­tung und zu locke­ren Kredit­stan­dards beiträgt? Unab­hän­gig von der Antwort auf diese Frage, ist es klar, dass bei der momen­ta­nen gerin­gen Infla­ti­on, die Geld­po­li­tik nicht die rich­ti­ge Adres­se für solche Beden­ken des Euro­rau­mes sein kann. Es ist daher die Aufga­be der makro­öko­no­mi­schen Aufsicht mit diesen poten­zi­ell finan­zi­el­len Ungleich­ge­wich­ten umzu­ge­hen. Der Aufsichts-Aufbau in Europa hat erheb­li­che Fort­schrit­te gemacht, die dazu beitra­gen, die Stabi­li­tät des Finanz­sys­tems zu gewähr­leis­ten. Da wir in einen länge­ren Zeit­raum der nied­ri­gen Zinsen eintre­ten, müssen wir bereit sein, die neuen makro­öko­no­mi­schen Instru­men­te, mit denen die zustän­di­gen natio­na­len Behör­den und die EZB nun betraut sind, in vollem Umfang zu nutzen.

Ein wich­ti­ger Aspekt der Senkung der Leit­zin­sen war, dass es auch unsere Zukunfts­leit­li­ni­en (forward guidance) bestä­tigt und dazu beiträgt, die Verpflich­tung der EZB sicher­zu­stel­len und zu gewähr­leis­ten, dass die Geld­po­li­tik, den Bedürf­nis­sen der Wirt­schaft im Euro­raum ange­mes­sen bleibt. Dies wird in der EONIA-OIS-Kurve deut­lich, die jetzt flach und für eine Lauf­zeit von bis zu drei Jahren im nega­ti­ven Bereich liegt, sich ferner in den Markt­er­war­tun­gen von nega­ti­ven EONIA-Festi­gun­gen bis 2017 (Darstel­lung 1) reflek­tiert und in einer wach­sen­den Kluft zwischen der erwar­te­ten Entwick­lung der Zinsen in den USA und im Euro­raum darstellt.
Ein nega­ti­ver Einla­gen­satz kann jedoch auch ungüns­ti­ge Folgen haben. Zunächst belegt er Banken mit Über­schuss­re­ser­ven mit Kosten und könnte daher ihre Renta­bi­li­tät redu­zie­ren. Beach­ten Sie jedoch, dass dies bei jeder Minde­rung der Einla­gen­sät­ze gilt und nicht nur bei solchen, die im Nega­ti­ven liegen. Sicher­lich könnte die nied­ri­ge­re Renta­bi­li­tät der Banken die wirt­schaft­li­che Erho­lung beein­träch­ti­gen, vor allem in Zeiten, in denen die Banken ihre Verschul­dung redu­zie­ren müssen, um stren­ge­rer Regu­lie­rung und verbes­ser­ter Markt­kon­trol­le gerecht zu werden. Aber ob die Renta­bi­li­tät der Banken wirk­lich fällt wenn die Leit­zin­sen sinken, hängt ganz allge­mein von der Stei­gung der Zins­struk­tur­kur­ve ab (da die Finan­zie­rungs­kos­ten der Banken auch fallen können), von den Anla­ge­stra­te­gien der Banken (da es Raum für sie gibt, ihre Geld­an­la­ge zu diver­si­fi­zie­ren, sowohl entlang der Kurve als auch im Kredit-Univer­sum) und von den Fakto­ren der zins­un­ab­hän­gi­gen Erträ­ge. Grund­sätz­lich sind Banken in einer gesun­den Wirt­schaft mit Haus­hal­ten und Unter­neh­men, die danach stre­ben ihre Projek­te zu finan­zie­ren, profi­ta­bel, worauf unsere expan­si­ve Geld­po­li­tik in erster Linie auch abzielt.

In der Tat, sowohl eine reibungs­lo­se Über­tra­gung der nied­ri­gen Leit­zin­sen auf die Kosten für die Kredit­ver­ga­be an die Wirt­schaft, als auch die Förde­rung der Renta­bi­li­tät der Banken wird letzt­lich davon abhän­gen, ob die Wirt­schafts­po­li­tik in der Euro­zo­ne und auf Länder­ebe­ne erfolg­reich ist bei der Umset­zung, die Volks­wirt­schaf­ten des Euro­raums wieder auf den Weg star­ken und stabi­len Wachs­tums zu führen, sowohl durch Maßnah­men auf der Ange­bots­sei­te und – soweit verfüg­bar – nach­fra­ge­sei­ti­ge Instru­men­te. Ein bedach­tes, gut kapi­ta­li­sier­tes Banken­sys­tem ist in jedem Fall erfor­der­lich, und die umfas­sen­de Banken­prü­fung (Compre­hen­si­ve Asses­ment) der EZB zusam­men mit dem Start des einheit­li­chen Banken­auf­sichts­me­chan­si­mus (Single Super­vi­so­ry Assess­ment) sind in dieser Hinsicht Schlüsselelemente.

Um die Kosten für die Über­schuss­re­ser­ven zu vermei­den, können die Banken auch beschlie­ßen, weni­ger von der EZB zu leihen. Dies würde die Über­schuss­li­qui­di­tät im Banken­sys­tem verrin­gern und einen Aufwärts­druck auf die Zinsen im Inter­ban­ken- und Anlei­hen­markt erzeu­gen, welcher der Verrin­ge­rung der Leit­zin­sen entge­gen­wir­ken könnte. Aber das konn­ten wir bisher nicht wahrnehmen.

Trotz der Diskus­si­on über die nach­tei­li­gen Folgen eines nega­ti­ven Leit­zin­ses, gab es keinen signi­fi­kan­ten Einfluss auf das Funk­tio­nie­ren der Geld­märk­te. Ich erwähn­te bereits die reibungs­lo­se Über­tra­gung der Raten und die stabi­len Handels­vo­lu­men in EONIA. Ebenso ist die Höhe der Über­schuss­li­qui­di­tät oder die Höhe der Einla­gen bei der EZB weit­ge­hend unbe­ein­flusst geblieben.

Aller­dings könnte ein mögli­cher Grund für das stabi­le Niveau der Geld­markt­funk­ti­on die rück­läu­fi­ge, aber immer noch bestehen­de Frag­men­tie­rung der Geld­märk­te sein. Während vieles erreicht worden ist, beispiels­wei­se sind TARGET‑2 Ungleich­ge­wich­te um fast die Hälfte seit ihrem Höchst­stand Mitte 2012 gesun­ken (572 Mrd. € am 3. Septem­ber, 541 Mrd. € unter ihrem Höchst­stand im Juli 2012), ist die Zersplit­te­rung des Mark­tes in der Euro-Zone nach wie vor gegeben.

Wenn Banken mit Über­schuss­re­ser­ven haupt­säch­lich in nicht belas­te­ten Ländern hoch profi­ta­bel sind, dann können mögli­che nach­tei­li­ge Auswir­kun­gen auf die Renta­bi­li­tät der Banken weni­ger ein Problem aus der Sicht der Finanz­sta­bi­li­tät sein. Und falls Banken gute Gründe haben, von der EZB zu leihen, zum Beispiel wenn andere Finan­zie­rungs­quel­len nicht zur Verfü­gung stehen, und wenn jene Banken, die Kredi­te aufneh­men nicht unbe­dingt diesel­ben sind, wie die, die Einla­gen bei der EZB halten, dann kann die über­schüs­si­ge Liqui­di­tät im Banken­sys­tem nicht fallen.

Was ist mit den Auswir­kun­gen der nega­ti­ven Raten auf die Zersplit­te­rung des Mark­tes in der Euro-Zone? Anzei­chen von den tatsäch­li­chen Geld­markt­ge­schäf­ten zeigen, dass die Frag­men­tie­rung die reibungs­lo­se Über­mitt­lung nied­ri­ge­rer Preise im Euro­raum immer noch deut­lich erschwert. Die Banken in nicht belas­te­ten Ländern können nun im unge­si­cher­ten Tages­geld­markt zu nega­ti­ven Raten leihen. Zinsen für Kredit­neh­mer in ange­spann­ten Ländern sind über­wie­gend posi­tiv und die Vertei­lung der Zins­ra­ten ist breit gefä­chert und reicht von leicht nega­tiv bis leicht über den Hauptrefinanzierungssatz.

Das heißt, es gibt Hinwei­se darauf, dass nied­ri­ge­re Preise die Frag­men­tie­rung in gesi­cher­ten Märk­ten redu­ziert haben. Die Suche nach Rendi­te im nied­ri­gen Zins­um­feld hat die Nach­fra­ge nach Produk­ten die höhere Erträ­ge erzie­len, aber dennoch sicher sind, wie Repo (Rück­kauf­ver­ein­ba­rung, Anm. d. Red.) oder Staats­an­lei­hen auch in den Nicht-Kern­län­dern erhöht. Die höhere Nach­fra­ge hat die Zinsen nach unten und somit in gesi­cher­te Märkte gedrückt.

Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Wie lautet – ange­sichts der theo­re­ti­schen Argu­men­te für und gegen das Senken eini­ger Leit­zin­sen in den nega­ti­ven Bereich, und ange­sichts der bishe­ri­gen Praxis – das Urteil? Oder, zurück­kom­mend auf die Meinun­gen zu Gesell: Sollte er als ein Prophet oder mone­tä­rer Sonder­ling betrach­tet werden?

Während das endgül­ti­ge Urteil sicher­lich noch aussteht, scheint es auf der Grund­la­ge der bisher vorge­leg­ten Bewei­se ange­bracht zu sein, fest­zu­stel­len, dass die Senkung der Leit­zin­sen, mit dem Einla­gen­satz in den nega­ti­ven Bereich der Wirt­schaft des Euro­raums einen geld­po­li­tisch ange­mes­se­nen Impuls gege­ben hat, die nach vorne gerich­te­te Führung der EZB (forward guidance) bestä­tig­te und zu einem gewis­sen Rück­gang der Markt­frag­men­tie­rung beitrug, ohne sich nach­tei­lig auf das Funk­tio­nie­ren der Geld­märk­te auszuwirken.

Da sich der Geld­markt im nega­ti­ven Bereich fest­setzt und andere Markt­seg­men­te mit nega­ti­ven Rendi­ten Erfah­run­gen sammeln, müssen wir jetzt sicher­stel­len, dass die brei­te­re Markt-Gemein­schaft vorbe­rei­tet ist, mit diesem neuen Umfeld zurechtzukommen. 

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