„Stuttgart 21” – Karl-Dieter Bodack

Da erhält endlich einmal eine Stadt einen ganz neuen Bahn­hof und eine Milli­on Quadrat­me­ter neue Bauflä­chen — welch ein Glücks­fall! Wie kann es sein, dass sich darüber seit zwei Jahr­zehn­ten Bürger, Poli­ti­ker, Inge­nieu­re und Bahn­ex­per­ten strei­ten, ja befeh­den… obwohl doch schon die Bauar­bei­ten in vollem Gang sind? Sugge­rie­ren die anhal­ten­den Montags­de­mons­tra­tio­nen (am 15. Juni war es die 275ste!), fünf Jahre Tag- und Nacht-Mahn­wa­che, dass hier unhalt­ba­re Zustän­de, vergleich­bar mit denen am Ende der DDR herrschen?

Wie kann sich eine Gesell­schaft in eigent­lich ganz ratio­na­len Frage­stel­lun­gen derart spal­ten: Leis­tet der neue Bahn­hof 34 oder 52 Züge in der Spit­zen­stun­de, mehr oder weni­ger als der derzei­ti­ge? Können die Züge im Gefäl­le des neuen Bahn­hofs sicher gebremst werden oder nicht? Können die 62 km Tunnel­stre­cken unter der Stadt zuver­läs­sig ohne Gebäu­de­schä­den und ohne Risi­ken für die Mine­ral­was­ser­quel­len gebaut werden oder nicht:

Alle diese Problem­fel­der werden von Bürgern, Poli­ti­kern und Exper­ten kontro­vers beur­teilt — nicht nur das: Der Riss quer durch alle Grup­pen ist inzwi­schen so tief, dass eine ratio­na­le Klärung der strit­ti­gen Proble­me unmög­lich erscheint. Die regie­ren­den Poli­ti­ker, die Deut­sche Bahn AG und die von ihr beauf­trag­ten Planer und Unter­neh­men spre­chen und korre­spon­die­ren de facto über­haupt nicht mehr mit denje­ni­gen, die sie als „Gegner“ outen: Hundert­tau­sen­de Bürger, deren Steu­er­gel­der man verbraucht, sehen sich miss­ach­tet, obwohl sie ganz ratio­na­le, weit­ge­hend tech­nisch-natur­wis­sen­schaft­li­che Proble­me in den sozia­len Kontext stellen!

Dabei wird der welt­an­schau­li­che Grund­kon­flikt, der sich hinter und unter „Stutt­gart 21“ orten lässt, gar nicht einmal arti­ku­liert: Da stehen sich dieje­ni­gen, die das Bahn­rei­sen als Notfall für den Ausnah­me­zu­stand „kein Pkw verfüg­bar“ sehen, denje­ni­gen gegen­über, denen das Bahn­rei­sen Lebens­kul­tur darstellt. Denn: Pkw-Affine sehen Züge am liebs­ten als U‑Bahn in Beton­röh­ren, die ande­ren wollen Stadt-Land-Fluss aus den Bahn­fens­tern erle­ben und auf die schö­nen Panora­ma-Ein- und ‑Ausfahr­ten Stutt­garts nicht verzich­ten. Diese kontro­ver­sen Lebens­hal­tun­gen blie­ben bislang weit­ge­hend verbor­gen! Wie lässt sich dieses sozia­le Gesche­hen verste­hen? Ist es viel­leicht sogar sympto­ma­tisch für poli­tisch-sozial-wirt­schaft­li­che Entwick­lun­gen in unse­rem Lande? Um dies zu verste­hen, müssen die Größen­ord­nun­gen des Bauvor­ha­bens „Stutt­gart 21“ gese­hen werden:

Kosten­ex­plo­si­on
versus Nutzenimplosion
Das Projekt wurde schon vor vielen Jahren von Bahn­ex­per­ten und vom Bundes­rech­nungs­hof auf Gesamt­kos­ten von mindes­tens sechs, wahr­schein­lich sieben und mögli­cher­wei­se acht Milli­ar­den Euro taxiert. Nun kommt auch der Bahn­vor­stand nach ursprüng­lich zwei, dann vier, nun auf sechs und nahe sieben Milli­ar­den Euro Baukos­ten: 7.000 Millio­nen Euro für einen Bahn­hof! Eine Schule kostet zehn Millio­nen – dieser Bahn­hof kostet so viel wie 700 Schu­len, so viel wie 1.000 durch­schnitt­li­che Rathäu­ser, so viel wie zehn­tau­send Wohnhäuser!

Was bewegt Partei­en und Poli­ti­ker, Vorstän­de und Aufsichts­rä­te dazu, einen solchen, wahr­haft gigan­ti­schen Betrag für einen Bahn­hof auszu­ge­ben? Er könnte doch auch dafür verwen­det werden, um an 1.000 Orten marode Bahn­hö­fe zu durch­schnitt­lich sieben Millio­nen Euro neu zu bauen – Deutsch­land hätte damit statt heute viel­fach ruinen­ar­ti­ger „Empfangs­ge­bäu­de“ wohl die schöns­te Bahn der Welt! Mehr noch, über­all gibt es im Bahn­netz Engpäs­se, marode Brücken und Tunnel, Lücken in der Elek­tri­fi­zie­rung: Mit den Stutt­gar­ter Milli­ar­den wären deutsch­land­weit alle Schwach­stel­len beho­ben — wir hätten endlich das Schie­nen­netz, dass mehr Verkehr leis­ten, das Stra­ßen­netz entlas­ten und den CO2-Ausstoß vermin­dern könnte!

Analy­siert man die Pläne, so erkennt man, dass die geplan­ten Bahnanlagen:
weni­ger Züge zulas­sen als die vorhan­de­nen: Gemäß DB-Vorga­ben sind 32 Züge/Stunde geplant, derzeit könn­ten 56 geleis­tet werden (Vier­egg-Rößler, 2011);
manche Zugan­schlüs­se wegen halbier­ter Gleis­zahl nicht mehr zulas­sen, Fahr­gäs­te müssen länge­re Warte­zei­ten in Kauf nehmen;
wegen ihrer Tief­la­ge, bei Bahn­stei­gen Trep­pen und Aufzü­ge erfor­dern, während im vorhan­de­nen Bahn­hof eben­erdi­ge Zugän­ge zu allen Zügen vorhan­den sind;
statt der heute hori­zon­ta­len Bahn­stei­ge in Zukunft Gleise und Bahn­stei­ge mit Gefäl­le haben und damit Gefähr­dungs­po­ten­zia­le für Bahn­be­trieb und Reisen­de schaffen;
im Brand- und Kata­stro­phen­schutz wegen beeng­ter Zugän­ge und daher sehr langer „Räumungs­zei­ten“ bislang unlös­ba­re Proble­me aufweisen;
Zugope­ra­tio­nen, z. B. An-/Abkop­peln von Trieb­fahr­zeu­gen oder Wagen ausschließen;
nur einen durch­schnitt­li­chen Fahr­zeit­ge­winn von 30 Sekun­den je Fahrt für den Fahr­gast schaffen.

Demge­gen­über könn­ten beschei­de­ne Ausbau­ten vorhan­de­ner Infra­struk­tur vergleich­ba­re Nutz­ef­fek­te vor allem für den Bahn­ver­kehr und dessen Fahr­gäs­te schaffen.

Wie steht die Deut­sche Bahn AG zu diesem Projekt? Sie hat es nicht erfun­den, jedoch vor zwei Jahr­zehn­ten zunächst propa­giert. Als die Größen­ord­nung, die Risi­ken und Konse­quen­zen erkannt wurden, stieg sie aus… und wurde von den Poli­ti­kern der Stadt und des Landes so unter Druck gesetzt, dass sie sich fügte und weiter plante. Als die gigan­ti­sche Kosten­di­men­si­on nicht mehr zu leug­nen war, wollte die DB AG erneut ausstei­gen — droht doch den Verant­wort­li­chen wegen der Unwirt­schaft­lich­keit des Projekts der Vorwurf der Verun­treu­ung mit dem Risiko von Gefäng­nis­stra­fen. Da griff die Bundes­kanz­le­rin in die Entschei­der­he­bel des Bahn­vor­stands und des Aufsichts­rats und verord­ne­te den Weiter­bau… weil sonst Deutsch­land seine „Zukunfts­fä­hig­keit“ verlö­re — eine wahr­haft apoka­lyp­ti­sche Vision in Anbe­tracht eines Bahn­hofs in Stutt­gart, der den Bahn­ver­kehr tatsäch­lich erschwe­ren wird!

Metro­po­len­zen­trum
oder Bauruinenkonglomerat?
Die Befür­wor­ter igno­rie­ren die Bahn­pro­ble­me mit dem Argu­ment Gewinn von Flächen für Gewer­be, Büros und Wohnun­gen. Diese Flächen stehen jedoch weit­ge­hend schon jetzt zur Verfü­gung: Die Gleis­an­la­gen lassen sich über­bau­en, so wie in Berlin, Basel, London, Paris oder New-York, der Abstell­bahn­hof und das Instand­hal­tungs­werk könn­ten ohne Weite­res verla­gert werden – für einige 100 Millio­nen Euro – schon jetzt!

Dabei steht in Frage, ob „Stutt­gart 21“ je fertig­ge­stellt werden kann: Die Anla­gen können erst in Betrieb genom­men werden, wenn alle Teile fertig­ge­stellt und geneh­migt sind, wenn der letzte Meter der mehr als 61.000 Tunnel­me­ter unter der Stadt befah­ren werden kann. Maßgeb­li­che Exper­ten halten das für unmög­lich: Stutt­garts welt­weit renom­mier­tes­ter Bauin­ge­nieur, Profes­sor Frei Otto, hat sich aus dem Projekt verab­schie­det, weil er es für unver­ant­wort­lich hält! Die DB AG hat schon in den Vorar­bei­ten massi­ve Inkom­pe­ten­zen gezeigt: Teile des Bahn­hof­dachs droh­ten einzu­stür­zen, Gleise wurden so verlegt, dass Züge mehr­fach entgleis­ten: Da fragen sich zu Recht besorg­te Bürger, wie sollen die komple­xen Tief­bau­ten im Grund­was­ser, unter Gebäu­den, unter dem Neckar und unter Ferti­gungs­stra­ßen von Daim­ler-Benz je gemeis­tert werden? Für den unter Über­druck zu bauen­den Düker für den Nesen­bach erhielt die DB AG kein verga­be­fä­hi­ges Ange­bot — der Bau musste neu geplant werden: Zeit­ver­zug über 2 Jahre!

Alle Entschei­der könn­ten, ja müss­ten, aus viel­fa­chen Quel­len wissen, „…dass Stutt­gart 21 in einem Desas­ter enden wird“ (DIE ZEIT am 28. 2. 2013). Die Kata­stro­phe ist abseh­bar: Abge­bro­che­ne Baustel­len, Wasser­ein­brü­che stop­pen die Bauar­bei­ten, unbrauch­ba­re Tunnel unter­mi­nie­ren die Stadt und erfor­dern Instand­hal­tung ohne Nutzen. Dazu kommen die Risi­ken, das Projekt im Rahmen der gesetz­li­chen Bestim­mun­gen über­haupt zu reali­sie­ren: Wich­ti­ge Projekt­be­rei­che sind noch immer nicht geneh­migt, der Brand- und Kata­stro­phen­schutz „sei nicht funk­ti­ons- und geneh­mi­gungs­fä­hig“ (so die von der DB beauf­trag­te Gruner AG in Basel).

Als abso­lu­te Absur­di­tät sehen Bahn­ex­per­ten, dass schluss­end­lich der Kopf­bahn­hof weiter betrie­ben werden muss, dass sich damit das Milli­ar­den-Projekt als über­flüs­sig, ja ausschließ­lich schäd­lich erweist. Das Allge­mei­ne Eisen­bahn­netz bestimmt, dass Bahn­an­la­gen, die die DB nicht mehr betrei­ben will, ande­ren Bahn­un­ter­neh­men ange­bo­ten werden müssen: Die DB AG behaup­tet, dies gelte für Stutt­gart nicht, der wissen­schaft­li­che Dienst des Bundes­tags wider­spricht dem. Eine eigens gegrün­de­te „Stutt­gar­ter Netz AG“ klagt deswe­gen und will Teile der vorhan­de­nen Bahn­an­la­gen über­neh­men: Der steu­er­zah­len­de Bürger fragt fassungs­los: Wie können Poli­ti­ker und Bahn­vor­stän­de sieben Milli­ar­den ausge­ben, ohne dass der Erfolg dieser gigan­ti­schen Ausga­be vorab geklärt ist? 

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