Jenseits von Knappheit – Editorial

Cumu­lus ist Latein und heißt „Haufen“. Das Deut­sche „kumu­lie­ren“ kommt ebenso da her, wie „Akku­mu­la­ti­on“. Auf Grie­chisch ist „soros“ der Haufen. Wenn­gleich sich bei Star­in­ves­tor George Soros eini­ges anhäuft, so hat er persön­lich nichts mit der Herkunft dieses Begriffs zu tun. Ein Haufen – oder besser „ein paar Säcke“ – Kartof­feln in einem kühlen Keller mit Lehm­bo­den würde ich einen kuli­na­ri­schen Reich­tum nennen. Wie ist das mit einem Musik­in­stru­ment, dem Rasen­mä­her oder dem Bild an der Wand? Ein Schrank voller Klei­dung besit­zen wir nahezu alle nebst einer Küche mit unzäh­li­gen Koch­uten­si­li­en. Betrach­ten wir die vielen in unse­rem Haus­halt versam­mel­ten Gegen­stän­de, kann manch einer sagen: „Ein ansehn­li­ches Vermögen.“

Es bleibt zu beden­ken: Die Kartof­feln behal­ten bei besten äuße­ren Bedin­gun­gen nur für einen kurzen Zeit­raum ihre Frische, die den Verzehr zu einem Genuss macht. Gitar­ren oder Geigen muss man pfle­gen und bespie­len, um sich dauer­haft daran zu erfreu­en. Das Garten­ge­rät bedarf regel­mä­ßi­ger Wartung; seine Dienst­zeit ist begrenzt. Der Wand­schmuck wird ebenso lang­wei­lig, wie etwa die Kleidermode. 

Kartoffel‑, Gitarren‑, Rasen­mä­her- und Stoff­ver­mö­gen verrot­ten oder werden fort­lau­fend aufge­braucht. Der „Zahn der Zeit“ nagt an allem, dessen Substanz stoff­lich ist. Ein Prozess, der – so betrüb­lich er im Einzel­fall erschei­nen mag – gleich­wohl sämt­li­chen mate­ri­el­len Verbin­dun­gen im Univer­sum in die Wiege gelegt ist. Bei diesen endlo­sen Zerfalls­pro­zes­sen geht trotz alle­dem nicht das Gerings­te verlo­ren, im Gegen­teil: Das Univer­sum expan­diert stän­dig und das mit zuneh­men­der Geschwindigkeit. 

Der Mensch strebt nach Bestän­dig­keit und wehrt sich gegen Verlust. Albert Einstein attes­tier­te sich selbst „die größte Eselei meines Lebens“ als er versuch­te mit der „kosmo­lo­gi­schen Konstan­te“ auf Endlich­keit des Univer­sums zu plädie­ren. Das Fest­hal­ten am Glau­ben ding­li­cher Konstanz in Fragen der Ökono­mie ist mit Blick auf die Natur der Gipfel von Eselei. Der unend­li­che Prozess des Werdens und Verge­hens wird sich davon nicht aufhal­ten lassen.

Wir erfin­den Sehn­suchts­sze­na­ri­en, wie den „siche­ren Hafen“ für die Schif­fe auf dem Meer. Die künst­lich gesi­cher­ten Hafen­an­la­gen enthal­ten verun­rei­nig­tes Wasser, weil es steht. Das beweg­te Meer­was­ser spen­det Leben. Der „siche­re Hafen“ ist toxisch. Die darin ankern­den Yach­ten der Reichen dümpeln, ihrer Bestim­mung entzo­gen, sinn­bild­lich dahin für eine lebens­frem­de Einstel­lung des Behar­rens. Das moder­ne wirt­schaft­li­che Denken schuf ein stehen­des Gewäs­ser, dessen Giftig­keit uns im Mensch­sein bedroht. Wir bren­nen aus (Burn­out). Es droht eine Klima­ka­ta­stro­phe und die Zerstö­rung lebens­not­wen­di­ger Umweltbedingungen. 

Wir rackern, wie einst Sisy­phos. Der Stein, den wir ein ums andere Mal den stei­len Berg hinauf­rol­len heißt „Bestän­dig­keit“. Wir wollen sie erlan­gen in einem Univer­sum, geprägt von wech­sel­vol­ler Unbe­stän­dig­keit und nie enden­den Verän­de­rungs­pro­zes­sen. Das menschen­ge­mach­te Wirt­schafts­sys­tem setzt dem die Krone auf, in dem es die Knapp­heit zum Prin­zip erklärt. „Der ratio­na­le Umgang mit Gütern, die nur beschränkt verfüg­bar sind“ ist laut Lehr­buch Wirt­schaf­ten. Das wissen­schaft­li­che Gebot für die Zunft der Ökono­men ist demzu­fol­ge nicht etwa – was zu wünschen wäre – die Unter­su­chung der Abläu­fe wirt­schaft­li­cher Tätig­keit. Auch nicht die Inbe­zie­hungs­set­zung von sinn­vol­len und zweck­mä­ßi­gen Zielen für Gemein­schaf­ten. Am Anfang und über allem steht die Knapp­heit. Wir lassen das gelten und rich­ten unser Handeln darauf aus. Der Drang nach der Herstel­lung von Knapp­hei­ten ist die logi­sche Folge, verspricht er doch per Defi­ni­ti­on mate­ri­el­le Erfol­ge bei geringst­mög­li­cher Leis­tung. Elemen­ta­re Grund­la­gen für die Befrie­di­gung mensch­li­cher Bedürf­nis­se sind bestens geeig­net, um Knapp­heits­ge­win­ne zu erzie­len: Grund und Boden, Paten­te, Rechte und nicht zuletzt das, wonach alle stre­ben: Geld. 

Geld ist der Schlüs­sel zur Über­win­dung der Knapp­heit und gleich­zei­tig das Schloss davor.

Wir verknap­pen, obwohl wir beim Verschwen­den die lebhaf­te­ren Glücks­ge­füh­le empfin­den. „Fest­hal­ten“ sagt unser Verstand, „Loslas­sen“ das Gefühl. 

Förder­lich für einen Ausweg aus dem Dilem­ma könnte sein, dem Wort „verschwen­den“ nach­zu­ge­hen. Es kommt vom althoch­deut­schen „verswin­den“ und bedeu­te­te genau das. Wie verschwin­den gifti­ge Bestän­de? Wie löst sich Ange­häuf­tes auf und macht Platz für frischen Nach­schub? Dadurch, dass wir das Dogma der Knapp­heit hinter uns lassen. Um nicht falsch verstan­den zu werden: das ist das Gegen­teil von „Immer mehr“, von dauern­dem Wachs­tum und Konsum. Der heuti­ge „Konsum­ter­ror“ mit seinen zerstö­re­ri­schen Folgen für die Umwelt ist die logi­sche Lang­frist­fol­ge der Knapp­heits-Ökono­mie. Zu einer ande­ren Wahr­heit gelan­gen wir, wenn wir andere Wege einschla­gen. Eine Balan­ce wie sie die Natur vor Augen führt – Nach­hal­tig­keit im urei­gens­ten Sinn – können wir erst erlan­gen, sobald wir Knapp­heit aus unse­rem Wirt­schafts­mo­dell verban­nen und Vergäng­lich­keit eingliedern. 

Herz­lich grüßt Ihr Andre­as Bangemann

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