Gab es in Villa Gesell eine Bodenreform? – Georg Lehle

Die Stadt “Villa Gesell” an der argen­ti­ni­schen Atlan­tik­küs­te ist nach dem Geld- und Boden­re­for­mer Silvio Gesell benannt. Sein Sohn Carlos Gesell kaufte kurz nach dem Tod seines Vaters im Jahr 1930 einen 20 Quadrat­ki­lo­me­ter großen Küsten­strei­fen und pflanz­te mit Fami­li­en­mit­glie­dern auf den Sand­dü­nen Sträu­cher und Bäume. Damals finan­zier­te er den Aufbau der städ­ti­schen Infra­struk­tur mit dem Verkauf der begrün­ten Grund­stü­cke. Heute dage­gen fehlen Inves­ti­tio­nen sowohl in Villa Gesell, wie auch in ganz Argen­ti­ni­en, trotz stei­gen­der Boden­prei­se. Wie kann das sein? Einst finan­zier­ten in Villa Gesell die Grund- und Boden­be­sit­zer den Aufbau der städ­ti­schen Infra­struk­tur, jetzt fehlen Inves­ti­tio­nen. Können sich heute die Besit­zer von Grund- und Boden der Finan­zie­rung entzie­hen (wie in Deutsch­land) und ihre Gewin­ne durch Immo­bi­li­en­spe­ku­la­ti­on privatisieren?

Profes­sor Dr. Dirk Löhr erklärt die Grund­pro­ble­ma­tik der heuti­gen Bodenordnung:
„Ein Grund­stück ‚in the middle of nowhe­re‘, ohne Anschluss an jegli­che Infra­struk­tur ist allen­falls von sehr gerin­gem Wert – egal, ob es sich um Sied­lungs­flä­chen oder um land­wirt­schaft­li­che Flächen handelt. Der Wert z. B. von Wohn­bau­land ist umso höher, je mehr die Gemein­schaft in Kinder­be­treu­ung, Schu­len, Schwimm­bä­der, ein attrak­ti­ves Ambi­en­te (z. B. Dorf­er­neue­rung), die Erreich­bar­keit von Behör­den etc. inves­tiert. (…) All diese Vortei­le werden von den Boden­ei­gen­tü­mern nahezu ohne Gegen­leis­tung eingesammelt.“
Renten­öko­no­mie, Dirk Löhr, S. 41

Nach Silvio Gesell wäre Grund und Boden daher zu verstaat­li­chen. Die Eigen­tü­mer könn­ten mit verzins­ba­ren Wert­pa­pie­ren entschä­digt werden. Die Nutzungs­rech­te des Bodens sollte der Staat meist­bie­tend verstei­gern. Die Einnah­men soll­ten den Müttern der Welt gestaf­felt nach Kinder­an­zahl ausbe­zahlt werden. Auf diese Weise wären nach Gesell Kriege und Land­raub die Grund­la­ge entzogen. 

Profes­sor Löhr erklärt den Vorschlag von Silvio Gesell näher:
„Gesell schlug einen Zwangs­kauf durch die öffent­li­che Hand zu Verkehrs­wer­ten [Markt­wert] vor (entschä­di­gungs­pflich­ti­ge Enteig­nung). Die Bezah­lung sollte über markt­üb­lich zu verzin­sen­de Staats­an­lei­hen (varia­bler Zins) erfol­gen. Mit dem Grei­fen des geld­be­zo­ge­nen Teils der Gesell’schen Reform­pa­kets (s. unten) würde der Zins­satz sinken; die entste­hen­den finan­zi­el­len Spiel­räu­me könn­ten zum Rück­kauf der Anlei­hen genutzt werden.“

Die heuti­ge Frei­wirt­schaft schlägt statt­des­sen vor, mit den einge­nom­me­nen Nutzungs­ge­büh­ren die Infra­struk­tur zu finan­zie­ren. Die soge­nann­te Boden­ren­te wird sozia­li­siert. Sie ist der Teil des Ertra­ges, der durch die Inwert­set­zung der Allge­mein­heit entsteht. Dirk Löhr: 

„Die Boden­ren­te würde über die Erbbau­zins- oder Pacht­zah­lun­gen in die Hand der Gemein­schaft überführt.“

Durch die Verstei­ge­rung wird erreicht, dass der „beste Wirt“ [Silvio Gesell] den Grund und Boden bebaut oder bewirtschaftet. 

Da eine Verstaat­li­chung von Grund und Boden heute unrea­lis­tisch erscheint, schlägt Löhr eine refor­mier­te Grund­steu­er vor. Anstel­le einer Enteig­nung, soll sich die Höhe der Grund­steu­er nach der Höhe der erziel­ba­ren Boden­ren­te rich­ten. Je besser die Lage, desto höher die Grund­steu­er. Mit den Einnah­men könnte im Gegen­zug der Staat die Einkom­mens- oder Gewer­be­steu­er senken.

Löhr schlägt vor, dass die Bemes­sungs­grund­la­ge der refor­mier­ten Grund­steu­er sich „nur auf den Grund und Boden“ bezie­hen, bzw. „die Renten hier­aus“, „nicht aber auf die aufste­hen­den Gebäu­de, Anpflan­zun­gen etc. Diese Werte gehen nämlich nicht auf Leis­tun­gen der Gemein­schaft, sondern auf die der Eigen­tü­mer zurück.“

Tatsäch­lich beweist das Beispiel „Villa Gesell“, das die Boden- und Grund­stück­be­sit­zer den Aufbau der städ­ti­schen Infra­struk­tur finan­zie­ren könn­ten. Carlos Gesell konnte die Umwand­lung der Sand­dü­nen in eine grüne Land­schaft und den Aufbau der Infra­struk­tur mit Grund­stücks­ver­käu­fen ermöglichen.

Die Toch­ter von Silvio Gesell, Sonia Tomys erzähl­te mir, über die Anfangs­jah­re in Villa Gesell. 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Kommentare werden moderiert. Es kann etwas dauern, bis dein Kommentar angezeigt wird.